ÜBERBELICHTETE MUSIK 233 Musikereignis zum Zwecke des uneingeschränkten HiFi-Erlebnisses und Rausches beliebig manipulierbar geworden ist.1 Es ist diesem nunmehr nachgeordnet und austauschbar geworden. Nach dieser Argumentation - will man ihr denn folgen - relativieren sich auch Autorenwünsche nach Klangtreue und nach permanenter Klangoptimierung und verkehren sich in ihr Gegenteil, sofern noch, an einem überkommenen Musikbegriff festhaltend, darüber hinaus weiter nach Inhalt und Formqualitäten von klangoptimierter Musik nachgefragt wird: „Wünschenswert ist darüberhinaus das Erschließen von Hör-Dimensionen, die die Erfahrungswelt des Hörers übersteigern oder ihm neue Dimensionen hinzufügen.“2 Klangoptimierung fragt nicht mehr nach Qualitäten, sondern allein nach Quantitäten und in dem Wunsch, die Erlebniswelt von Klang zu erweitern, teilt sich schlicht die mediale Botschaft einer Mensch-Maschinen Synergetik mit: Erlebt wird eine Überbelich-tung und Atomisierung der Musik, Ergebnis einer Beschleunigung der Musik auf Lichtgeschwindigkeit und Ergebnis ihrer Zerlegung in diskrete Zahleneinheiten. Die Möglichkeit zum unablässigen Optimieren von Musik läßt die eigentliche Mu-sik in den Hintergrund treten zugunsten einer vordergründigen effektvollen Musik. So verfährt nun eine Argumentation, die im Digitalen die Auflösung der Musik im Effekt sieht, der sich selbst genügsam ist. Eine andere Lesart wäre es, den Ef-fekt als in seinem Sein grundlos nicht zu diskreditieren (und damit auch der zum Effekt gewordenen Musik ihre Grundlosigkeit zuzubilligen), sondern dies explizit anzuerkennen und damit optimierte Datenzirkulation zu nutzen als Möglichkeit zur Eigensinngenerierung. Das heißt weiter: Sinnenrausch allein nicht im anerkannten Musikerlebnis zu verorten, sondern sich zu öffnen für weitergehenden Genuß, was dann auch die Ekstase im „Dolby-Effekt“ nicht verurteilt. Diese Richtung versucht weder Sinn im sinnenhaften Ereignis zu entdecken, noch im sinnenhaften Genuß ein nicht erschließbares Arkanum zu vermuten, sondern sucht das Arkanum auf Algorithmen zu bringen, womit es dann freilich kein Arkanum mehr ist. Wo der Sinn schließlich im Algorithmus allein liegt, kann befreit fortgeschritten werden, die weiteren Potentialitäten des einen Ereignisses zu ergründen. Mit anderen Wor-ten: Das beklagte Verschwinden der Musik kann genutzt werden, bis dahin uner-hörte Musik zu bedenken, Wege zu ihrer Verwirklichung zu ergründen, um sie dann als hörbares Erlebnis auf ihre Genießbarkeit hin zu prüfen, was immer dann auch Hören in der reinen Datenzirkulation sein mag. Das Verschwinden des Altbe-kannten und fraglos für gut Befundenen heißt es also nicht nur zu bedauern, son-dern es sind damit gleichsam neue Wege eröffnet, das bislang Nicht-Gehörte auf 1 de la Motte, Helga: Maschinenmusik - Musikmaschinen. In: Österreichische Musik-zeitschrift 1984, Heft 9, S. 441. Moderat in der Wortwahl, doch nicht weniger deutlich im Gehalt, schreibt Hans Peter Reinecke: „Der HiFi-Kult, der heute betrieben wird ... lenkt den Blick leicht von anderen wichtigen Gesichtspunkten ab und betont einseitig die akustische Perfektion.“ Reinecke, Hans Peter, zitiert nach Liedtke, Rüdiger: Die Vertreibung der Stille. München 1988, S. 132 2 Gieger, Hans-Joachim: Die physiologische Hörkurve und der lineare Schalldruckver-lauf. In: Batel, Günther/Kleinen, Günter/ Salbert, Dieter (Hg.): Radiophonische Musik. Celle 1985, S. 97