VON DER EINSCHREIBUNG ZUR NEUSCHREIBUNG 238 DER MUSIK Erkennen eines Zeitflusses sind wir auf die Unterschiedlichkeit jener Zeitebenen angewiesen. „Erst wenn wir ein früheres und ein späteres Jetzt deutlich auseinan-derhalten, erst wenn die Seele sagen kann: „Zwei Jetzte“ (duo nun) [...], erst dann haben wir Zeit bemerkt.“1 Was immer jene Seele genanntes Etwas auch sein mag - an dieser Stelle sei der Begriff durch den des „Geistes“ oder des „Bewußtseins“ er-setzt -, ganz fraglos sind jedoch unsere wirklichkeits- und zeitkonstituierenden Systeme durch die Möglichkeit identischer „Jetzte“ betroffen, was sich in einer gewissen Orientierungslosigkeit Ausdruck verleiht. Zeit ist nicht mehr gekenn-zeichnet durch Kontinuität, sondern das Ergebnis einer Folge sich präsentierender Diskontinuitäten. Samplen von Signalen bedeutet also Speichern von gegebenen Immaterialien und ihr Herauslösen aus bestimmten Zeitzusammenhängen. Das impliziert zu-gleich die Möglichkeit zur Konstruktion beliebiger Abfolgen von Zeiten, Folge ei-nes Herauslösens aus dem realen Raum und der realen Zeit und überführt in den virtuellen Raum und der virtuellen Zeit der Simulation. Referenzlos wie die zu 0/1- Zeichen gewordenen Informationen im virtuellen Raum sind, ist auch die virtuelle Zeit ohne Referenzbezug zur Außenwelt und beschreibt ihre eigene Zeitlichkeit. „Es handelt sich um eine autonome Zeit, ohne Referenz auf die Zeit der reellen Welt, vergangenheitslos, gegenwartslos, zukunftslos“.2 Wenn identische Jetzte aufeinander folgen und sich sogar zu überlagern vermögen, erlangen Begriffe wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine neue Bedeutung. Vergangenheit ist nicht mehr das Unwiderbringbare, sondern gleichwohl auch das zukünftig Mögli-che. Diese „nicht-chronische Zeit“ (Couchot) zeichnet sich durch die prinzipielle Gleichwertigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus, welche lediglich als Virtualität existieren. Es ist also eine Zeit, in der lediglich die Möglichkeiten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft angegeben sind. Im Arbeitsspeicher von Computern/Samplern herrschen also deshalb keine irreversiblen Zeitverläufe vor, weil nur so getan wird, als ob eine der realen Zeit vergleichbare oder identi-sche Zeitebene vorliegen würde. In der computerinternen Zeit oder der virtuellen Zeit drückt sich aber deren Evidenz aus: die Evidenz nämlich, daß die Referenz der Zeit, zu der diese sich verhält, auch ganz anders beschaffen sein kann. Indem die virtuelle Zeit in ihrem Verlauf anders definiert wird, sind aber auch gesampelte, in der Realzeit unumkehrbare, lineare Klangverläufe anders und das heißt: beliebig zu kombinieren, also Zeitverläufe nach Gefallen zu synthetisieren. „Die Synthese-Zeit ist wie das synthetische Bild eine Virtualität, ein quasi unendlicher Vorrat an Au-genblicken, Dauern, Gleichzeitigkeiten, Verkettungen oder Verzweigungen von Ursachen und Wirkungen, die nicht einfach reversibel oder umkehrbar lesbar, son-dern total redefinierbar und wiederholbar - also reinitiierbare Zeiten sind.“3 Als Emergenz von Realzeit und Synthesezeit konstituiert sich eine „hybride Zeit“ wie Couchot schreibt, eine Zeit also, „die die Zeit der Maschine und die Zeit des Sub- 1 Ebd., S. 32 2 Couchot, Edmont: Zwischen Reellem und Virtuellem: Die Kunst der Hybridation. In. Rötzer, Florian/Weibel, Peter (Hg.): Cyberspace, a.a.O., S. 343 3 Ebd., S. 344