VERKNÜPFTE ALLGEGENWART 239 jekts vermengt.“1 Diese Vermengung zweier grundsätzlicher unterschiedlicher Zeitlichkeiten, einer linearen Zeit mit einer Punktzeit macht die Verkettung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem reinen Kombinationsspiel. Das Beispiel der Filmindustrie beleuchtet die Auflösung der Dreieinigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und das Aufscheinen einer hybriden Zeit in sehr anschaulicher Weise: „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man mit Hilfe sol-cher Algorithmen menschliche Bewegungen naturgetreu nachbilden kann. Und dann ist es durchaus denkbar, dass zum Beispiel Marilyn Monroe oder Humphrey Bogart gemäss ihren alten Filmcharakteren digitalisiert und mit Bewegungsalgo-rithmen versehen werden können, um sie in einem völlig neuen Skript realistisch agieren zu lassen. Niemand wird dann mit Sicherheit sagen können, ob das, was wir im Kino oder am Bildschirm sehen, je einmal stattgefunden hat.“2 Solches inte-ressiert dann nur noch als eine zu bedenkende Möglichkeit. Wenn Cineasten davon träumen, mit synthetischen Marilyns und Bogarts neue Filme zu drehen, so bevöl-kern digitale Akteure allmählich die Filmleinwand. Brandon Lee, zum Beispiel, ist vor Beendigung des Film „Die Krähe“ durch ein Mißgeschick bei den Dreharbei-ten ums Leben gekommen, zu einem Zeitpunkt, als noch wesentliche Szenen fehl-ten. Diese wurden mit einem anderen Schauspieler abgedreht, dem auf digitalem Wege die Gesichtszüge Brandon Lees übertragen worden sind. Oder: Ein Präsident der USA spielt in einer digitalen Entsprechung mit Tom Hanks zusammen in dem Film „Forrest Gump“) eine Rolle, obwohl er längst als verstorben gilt.3 All jenes macht deutlich, explizite Daten, die auf bestimmte Personen oder auch auf deren Lebenswerk verweisen, werden mithin hinfällig, wenn diese, für ein Publikum un-unterscheidbar, an Orten operieren, wo diese nie gewesen sind und dies womöglich noch zu Zeiten, wenn jene längst verstorben sind. Zuletzt spielt es dann überhaupt keine Rolle mehr, ob die im Film agierende Person überhaupt je existiert hat. Als ein weiteres Beispiel sei auf den Bereich der Fotografie hingewiesen: Dort sind heute Manipulationen am Bildmaterial mit immer weniger Kostenaufwand zu er-zielen, womit bildgewordene Zeitereignisse nachträglich von jedermann zu wün-schenswerten komputiert zu werden vermögen. Die im Bild eingefrorene Vergan-genheit beweist dann lediglich ihre eine Möglichkeit zum Sein. In ihr kann aller-dings auch ein Entwurf ausgedrückt sein, wie ein zukünftiges Bildwerden vorge-stellt ist. Wie auch immer, das, was sich als Gefrorenes dokumentiert, offenbart sich in seiner Konsistenz als grundsätzlich flüchtig. Für die Musik - diesem Ereignis in der Zeit schlechthin - nun gilt diese Auflö-sung eines linearen Zeitflusses in spezieller Weise. Denn die Musik läßt, gerade weil sie nur in der Zeit existent ist, Manipulationen in der Zeit zum Normalfall der Computerbearbeitung werden und zugleich dabei ein Denkverständnis Gestalt an-nehmen, das Abschied nimmt vom gerichteten Verlauf der Ereignisse von einem definitiven Anfang zu einem bestimmten unveränderlichen Ende hin. Da ein zum Vorbild genommenes Klangergebnis eines solchen Processings auf keiner stoffli- 1 Ebd., S. 344 2 Marek, Jan: Mathematische Marylin. In: du, Heft 11, Nov. 1991, S. 50 3 Vgl. Spiegel vom 12-19. September 1994