VON DER EINSCHREIBUNG ZUR NEUSCHREIBUNG 248 DER MUSIK Realisieren lassen sich in der ausgedehnten Welt schließlich Effekte, welche exakt wiederholbar bleiben und zuvor undenkbar waren. Und das heißt beispiels-weise: Die Produktion von Tönen in Frequenzbereichen, die ein Instrument gar nicht zur Verfügung stellt, schnelle Läufe, die die Fingerfertigkeit eines Instrumen-talisten übersteigen oder Tonhöhen, die bestenfalls im Wunschdenken eines Sän-gers existieren u.v.a.m. Diese virtuelle Unabgeschlossenheit eines jeden Arbeitens am Computer, die ein Loslösen vom linearen, sukzessiv verlaufenden Denken möglich macht und fortan ein freies Assoziieren erlaubt, ist für Jacques Derrida das bestimmende Moment des neuen Computerzeitalters, was ihn - mit Blick auf die Computer-Schriftkultur, die gleichsam, wie im Journalismus, ein endloses „Re-writing“1 möglich macht - auch die Schrift neu bewerten läßt.: „Mit dem Beginn einer zeilenlosen Schrift wird man auch die vergangene Schrift unter einem veränderten räumlichen Organi-sationsprinzip lesen. [...] Weil wir zu schreiben, auf andere Weise zu schreiben be-ginnen, müssen wir auch das bisher Geschriebene auf andere Weise lesen. [...] Was es heute zu denken gilt, kann in Form der Zeile oder des Buches nicht niederge-schrieben werden; ein derartiges Unterfangen käme dem Versuch gleich, die mo-derne Mathematik mit Hilfe einer Rechenschiebermaschine bewältigen zu wollen. Die hoffnungslose Rückständigkeit eines derartigen Verfahrens zeigt sich heute deutlicher denn je. Der Zugang zur Mehrdimensionalität und zu einer de-linearisierten Zeitlichkeit ist keine einfache Regression, die wieder beim ‘Mytho-gramm’ enden würde, sondern läßt im Gegenteil die ganze, dem linearen Modell unterworfene Rationalität als eine weitere Form und eine weitere Epoche der My-thographie erscheinen.“2 Das „Vergangene auf andere Weise lesen“ heißt nicht nur, auf dem medial bedingten linearen Schriftprinzip basierende, überkommene Schreib-/Sichtweisen und Wertvorstellungen nicht nur zu hinterfragen und gege-benenfalls entsprechend den neuen medialen Bedingungen zu modifizieren, son-dern auch, das auf der Grundlage eines linearen Denkverständnisses entstandene Wissens- und Kulturgut neu zu bewerten und zu ordnen. Es zeigt sich, „dass der Übergang aus eindimensionalen in nulldimensionale Codes nicht nur neue Er-kenntniskategorien (etwa Wahrscheinlichkeitsrechnung statt kausaler Erklärung, oder Propositionskalkül statt Logik), sondern überhaupt neue Kategorien (vor al-lem Werte) mit sich bringt“ (vgl. Abschnitt: Copyrightaufhebungen oder: Vom „Werk-Stück“ zum „Stück-Werk“).3 liegen und den Ursprungsdaten hinzuaddiert werden. Vgl. Henle, Hubert: Das Tonstu-dio- Handbuch. München 1990, S. 269 1 Vgl. dazu auch: Lyotard, Jean-Francois: Die Moderne redigieren. In: Welsch, Wolf-gang (Hg.): Wege aus der Moderne. Weinheim 1988, S. 204-214 2 Derrida, Jacques: Grammatologie. Ffm 31990, S. 155/156 3 Flusser, Vilém: Die Krise der Linearität, a.a.O., S. 34