VON DER EINSCHREIBUNG ZUR NEUSCHREIBUNG 250 DER MUSIK Zeiten, die Interessierte ein Werk vom ersten Themenentwurf bis hin zur Schluß-kadenz sich entwickeln sehen ließen, um daraus Komponistenintentionen abzulei-ten, gibt es einfach nicht mehr. Bestenfalls das letzte „backup“ - sofern dieses nicht auch gelöscht wurde - mag noch zum Vergleich herangezogen werden mögen, was Bemühungen um Sinnstif-tung vollends dem freien Phantasieren überantwortet. Und auch dieses letzte „ba-ckup“ mag auch nur die Sicherheitskopie des aktuell gespeicherten Datenmaterials sein, womit die absolute Gegenwärtigkeit des Zeichens in der exakten Verdoppe-lung des Datenmaterials sowie seine Referenzlosigkeit nur noch einmal unterstri-chen wird. „Damit das Zeichen rein ist, muß es sich selbst verdoppeln: erst die Verdoppelung des Zeichens macht dem, was es bezeichnet, ein Ende.“1 In der Ver-doppelung ist das Zeichen seiner letzten Verweisungen bereinigt. Sie sind nur auf sich selbst bezogen und stehen beziehungslos zueinander. Es gibt mit der exakten Verdoppelung keine Entwicklung mehr zu bekunden, keine Repräsentation und kein Original mehr.2 Die Aktualisierung einer xyz.“BAT“- Datei zu Musik bedingt das gleiche Klangergebnis wie die einer xyz.“DAT“- Datei. Es ist nicht mehr nachvollziehbar, welches Ereignis aus welchem folgt. Nur die Dateinamensendung von „D“AT zu „B“AT bleibt als Differenz bestehen, womit die Aufmerksamkeit von Spurensicherern auf das Vergleichen, Sammeln und Werten von (willkürlich) gesetzten Endungen gelenkt wird und darauf reduziert bleibt. Und dort, wo jenes identische „backup“ fehlt, ist es ein der Indifferenz überstelltes Original, da es gleichsam nur Ausgangspunkt für eine neue Serie von Originalen darstellt, bei der jede „?“AT- Datei die Wandlung vom „D“ zum „B“ und/oder umgekehrt vollzie-hen kann. Diskret wie die Zeichen im Computer sind, löst sich alles in den digitalen Ar-chiven in isolierte Einzelereignisse und folglich Kontinuität in Diskontinuität auf. Aus einer Vielzahl von Zwischenentwürfen noch ein kausales Gefüge herleiten zu wollen, ist wohl noch möglich, doch andere Kausalität vorgebende Ketten lassen sich mit der gleichen Berechtigung aufstellen und sind demnach gleichwahrschein-lich, sofern sie nur in ihrer Herleitung eine gewisse Plausibilität aufweisen. Aber auch da, wo auf dem Weg zur endgültigen Datei noch eine Vielzahl von Zwi-schenentwürfen festgehalten sind, ist die kausale Herleitung aus den zur Verfügung gestellten Dateien problematisch und nicht mehr konsequent leistbar, ist denn kein palimpsestartiges, zeitlich verortetes Übereinanderlagern von Entwürfen mehr ge-geben, sondern ein gleichberechtigtes Nebeneinandergestelltsein von ähnlichen Entwürfen. Selbst wenn diese Dateien noch in irgendeine logische, nachvollziehba-re Abfolge gebracht zu werden vermögen, so bleiben die Dateien in ihrer Gesamt-heit doch zeitlos, da nur noch die Beziehungen der Datenpakete untereinander ge-prüft werden können, nicht aber die Beziehungen der Dateien zu Ort und Zeit, in der diese entstanden sind. Dieses wiederum läßt die Frage nach der Relevanz einer raumzeitlichen Zuschreibung von Musik für deren Bewertung aufscheinen. Das Wissen um Zeit und Ort der Entstehung stellt einen maßgeblichen, wenn 1 Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, a.a.O., S. 111 2 Vgl. ebd., S. 111