SPURENSICHERUNG 251 nicht gar den entscheidenden Faktor bei jeder Sinnerschließung und Qualifizierung von Werken dar. Wo Informationen darüber nicht zugänglich sind, oder wo - wie dies bei den digitalen Speichermedien der Fall ist - die Archivierung grundsätzlich spurenlos und Spurensicherung vergeblich ist, ist die Gewähr, verläßliche Aussa-gen über Komponistenwerke zu tätigen, nicht gegeben. Über das Buch schrieb einst Michel Foucault: „Die Grenzen eines Buches sind nie sauber und streng ge-schnitten: über den Titel, die ersten Zeilen und den Schlußpunkt hinaus, über seine innere Konfiguration und die es autonomisierende Form hinaus ist es in einem Sys-tem der Verweise auf andere Bücher, andere Texte, andere Sätze verfangen: ein Knoten in einem Netz.“1 Ein „Knoten in einem Netz“ ist gleichsam die in der Zeit geschaffene Komposition - eingebunden in einen spezifisch, zeitlich zu verorten-den Kontext und diesen widerspiegelnd. Musik zu qualifizieren, meinte die Spu-rensicherung in Form des Sammelns von Skizzen, Notenfragmenten u.ä. vorzu-nehmen, um daraus die Entwicklung eines Werkes zu bestimmen und zugleich an-hand der historischen Datierung des Materials Kenntnis zu nehmen von vorherr-schenden Zeitströmungen oder Diskursformationen, um schließlich aus der Summe der vielfältigen, unterschiedlichen Informationen die Bedingungen für jene spezifi-sche musikalische Erscheinungsform ableiten zu können, deren materielles Sub-strat das notierte musikalische Werk ist. Nicht allein die Musik war so bislang Ge-genstand der Kritik gewesen, sondern vielmehr war der Gesamtkontext, in dem diese stand, für das letztendliche Urteil bedeutend und entschied über Qualität oder Nicht-Qualität von Werken. Glenn Gould hat sehr pointiert und engagiert auf die-sen Zusammenhang von Werturteil und zeitlicher Verortung von Musik hingewie-sen. Am konstruierten Beispiel einer Improvisationsmusik, welche Haydn hätte zugeschrieben werden können, macht er dies deutlich: „Ich gab zu bedenken, heck-te man ein solches Stück aus, bliebe sein Wert nur solange al pari - das heißt dem Wert Haydns entsprechend -, als bei seinem Vortrag irgendwelche Winkelzüge gemacht würden, genug zumindest, um den Hörer davon zu überzeugen, daß es tat-sächlich von Haydn sei. Legte man hingegen nahe, daß es, wiewohl es sehr Haydn ähnele, vielmehr ein jugendliches Werk von Mendelssohn sei, so nähme sein Wert ab; und beschlösse man, es einer Folge von Autoren zuzuschreiben, jeder von ihnen näher dem heutigen Tage, so würden - ungeachtet ihrer Talente oder ihrer historischen Bedeutung - die Meriten dieses nämlichen kleinen Stücks mit jeder neuen Identifizierung geschmälert. Unterstellte man andererseits, dieses Werk des Glücks, des Zufalls, des Hier und Jetzt, sei nicht von Haydn, sondern von einem Meister, der ein oder zwei Generationen vor seiner Zeit gelebt hat (Vivaldi etwa), so würde dieses Werk - wegen dieser Kühnheit, diesem Weitblick, dieser Vorweg-nahme der Zukunft - zu einen Markstein des musikalischen Komponierens.“2 Er folgert aus solch unterschiedlicher Bewertung der immer gleichen Musik, daß dies nur deshalb möglich ist, „weil wir nie wirklich das Rüstzeug bekommen haben, Musik an sich zu beurteilen.“3 Anstatt allein die kompositorische Leistung zu wür- 1 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Ffm 41990, S. 36 2 Gould, Glenn: Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Schriften zur Musik 2, a.a.O., S. 144 3 Ebd., S. 144