VON DER EINSCHREIBUNG ZUR NEUSCHREIBUNG 252 DER MUSIK digen, müßte sich diese erst nach erfolgter zeitlicher Verortung verantworten. Die „Musik an sich“ - so Gould - war also noch nie Gegenstand allein eines Wertur-teils, sondern ihren Sinn und ihre Qualität erhielt sie erst vor dem Hintergrund ei-nes gesellschaftlichen Umfeldes. Wesentliche Unterstützung erfährt solche Argumentation, wenn an Beurteilun-gen von Musik gedacht wird, die aufgrund bestimmter - sich im nachhinein als falsch erwiesener - Vorausannahmen eindeutig qualifiziert ist. Ein Beispiel aus der Musikgeschichte, bei dem die Relevanz von Hintergrundsbezügen besonders deut-lich hervortritt, mag dies veranschaulichen. Komponieren - noch im vorigen Jahr-hundert - war ausschließlich Männersache, und wo Frauen sich daran versuchten, war ihr Scheitern in ihren Versuchen - das stand für Musikkritik außer Frage - in den Kompositionen ablesbar. Freia Hoffmann erinnert an den Fall des Musikkriti-kers Ludwig Rellstab im Jahre 1825, der für die sieben Orgelkompositionen der Mariane Stecher durchaus wohlwollende Worte findet und auch Talent entdeckt, gleichwohl zuletzt das Komponieren dem Manne vorbehalten sieht, da es gleich dem Ackerbau des kräftigen Männerarmes bedürfe und er das Fugenkomponieren vergleicht „mit der Bearbeitung eines felsigen Bodens ‘durch den der Pflugschar mit nervigem Männerarme geführt werden muß, wenn der Grund bis in die Tiefe aufgewühlt und befruchtet werden soll.’ Eine Frau, die sich diesen männlichen Akt des Befruchtens zumutet, kann dabei nur ihre Kraft erschöpfen: ‘Sie steht ... als die Besiegte da, und nicht das Kunstwerk als das, was der Geist seiner Macht unter-worfen hat’. An einigen ‘an und für sich wohlklingenden Stellen’, die allerdings der ‘Natur der Fuge’ widersprechen, weist Rellstab nach, daß hier ‘die Natur des weiblichen Gemüths über die Leistungen, zu denen es sich künstlich aufzwingt, siegt’.“1 Das „weibliche Gemüth“ ist folglich für Rellstab in der Komposition ab-lesbar, leider nur handelte es sich bei Mariane Stecher nicht um eine Frau, sondern um einen Geschlechtsgenossen von Rellstab, den Benediktinermönch Marian Ste-cher. Einem Setzfehler zufolge wurde aus „Mariano“ „Mariane“, und wo also Rell-stab die Führung des männlichen Armes in der Komposition vermißte, war dieser gleichwohl am Werke gewesen.2 Jenes harmlose „e“ am Ende eines Eigennamens entschied, indem es die gesamte Ideenwelt des vorangegangenen Jahrhunderts bei dem Musikkritiker aktivierte und mit in die Beurteilung einfließen ließ, über die Qualität der sieben Fugen. In diesem Sinne wäre nun mit den spurenlos generier- wie archivierbaren und daher zeitlosen Computerwerken eine Situation eingetreten, wodurch der „An- Sich“- Wert von Musik, befreit von überflüssigen Hintergrundsinterferenzen, her-auszuarbeiten wäre. Die Annahme allerdings, es bräuchte diese Kenntnis der ge-sellschaftlichen Umstände und zeitlichen Verortung zur Qualifizierung einer Mu-sik nicht, und der Gehalt einer Beurteilung würde durch Eliminierung dieses Wis-sens objektiviert, ist, so anschaulich Goulds Beispiel und das von Freia Hoffmann ergänzte zunächst auch sein mögen, eine irrige. Dies folgt aus mehreren Gründen. Musik, solchermaßen einer Überprüfung 1 Hoffmann, Freia: Instrument und Körper. Ffm/Leipzig 1991, S. 17 2 Vgl. Ebd., S. 18f.