SPURENSICHERUNG 253 überstellt, ist zunächst einmal notwendigerweise gebunden an eine klare innere Strukturierung. Denn wo nicht rein nach Gefallen oder Mißfallen unterschieden werden soll, muß der Aufbau der Musik, ihre interne Organisation Qualität bewei-sen oder nicht. Glenn Goulds Argumentation fußt also letztendlich auf der Not-wendigkeit der Existenz einer formallogischen Musik - eines/r bestimmten Stils/Gattung -, also auf der Nachvollziehbarkeit bestimmter kompositorischer Wendungen. Es gilt also, in einer musikalischen Erscheinung ein Gerüst zu erken-nen, welches „An-Sich“ trägt oder nicht, und ob es trägt, ist bestimmt durch gesell-schaftliche Übereinkunft und die Bedingung, über voraussetzungslose, immerwäh-rende Qualitätskriterien zu verfügen. Dieses allein wäre schon zu hinterfragen. Was nun aber, und hier verliert die Idee eines „An-sich“-Wertes endgültig seine Relevanz, wenn einem Musikstück keine wie auch immer geartete Struktur zu-grundeliegt, also anstatt der Ordnung, eine nicht nachvollziehbare Ordnung oder gar die Unordnung in dem klanglich Aufscheinenden herrscht? Was soll dann zur Qualifizierung herangezogen werden? Strukturlos wie eine solche Musik dann wä-re, ist sie dann schlecht oder gar völlig sinnlos? Douglas R. Hofstadter hat in sei-nem Buch „Gödel, Escher, Bach“ auf die Problematik einer ausschließlichen Werkqualifizierung und auf den unverzichtbaren Hintergrundsbezug bei der Er-schließung von Werken aufmerksam gemacht. Ausgehend von der Frage, was wohl notwendig wäre, um fremden Intelligenzen Kenntnis über uns, unsere Kultur und unseren Wertekanon zu vermitteln, entwirft er folgendes Szenario: Er sendet zwei Schallplatten in den Weltraum, einmal eine mit Musik von Johann Sebastian Bach und eine mit aleatorischer Musik von John Cage und fragt, welche Musik von einer fremden Intelligenz wohl eher „verstanden“ und auf ihre Sinnhaftigkeit befragt werden könnte. Um den Sinn und die Bedeutung jenes Cagestückes zu er-schließen - so Hofstadter -, bräuchte es mehr als das reine Musikerlebnis. „Ein Cage-Stück muß in einem großen kulturellen Zusammenhang gesehen werden - als eine Revolte gegen gewisse Traditionen. Wenn wir also diese Bedeutung vermit-teln möchten, müssen wir nicht nur die Noten des Stückes senden, sondern eine ausführliche Geschichte der westlichen Kultur vorausschicken. Es läßt sich also sagen, daß eine isolierte Platte mit Musik von John Cage an sich keine ihr inne-wohnende Bedeutung hat. [...] Um andererseits Bach zu würdigen, bedarf es weit geringeren kulturellen Wissens. Das mutet wie vollendete Ironie an, denn Bach ist viel komplexer und feiner durchorganisiert, und Cage entbehrt so jeglicher Intel-lektualität. Doch liegt hier eine merkwürdige Umkehrung vor: Intelligenz liebt Muster und scheut vor dem Zufälligen zurück.“1 Ohne das Wissen um die Exis-tenzbedingungen würde eine solche Cage-Musik (von fremden Intelligenzen und Musikkritikern gleichermaßen) vielleicht als zusammenhangsloses, weil unstruktu-riertes Musikgeplänkel gedeutet und verworfen werden. Gerade durch ihre Nichtstruktur und Zufälligkeit grenzt eine solche Musik sich zu einem bestimmten Zeitpunkt aber von dem Bestehenden ab. Dem Zufall wird musikalisches Gewicht zuerkannt und die Grenzen des Musikmöglichen dadurch neu- und weitergesteckt. 1 Hofstadter, Douglas R.: Gödel, Escher, Bach. Ein Endloses Geflochtenes Band. Mün-chen 31993, S. 187/188.