VON DER EINSCHREIBUNG ZUR NEUSCHREIBUNG 254 DER MUSIK Gerade in jener Nichtstruktur ist das Strukturmerkmal der Aleatorik beschrieben, welches aber ohne die Kenntnis der genauen Hintergründe für einen Kritiker uner-kannt bleiben muß. Aber auch, wenn ausschließlich in einer Musik mit erkennbaren Strukturen nach einem „An-Sich“ geforscht wird, wird dieses „An-Sich“, egal welches „Rüstzeug“ nun auch angelegt wird, nicht aufscheinen und auch nie aufscheinen können. Mu-sikkritik im Sinne Goulds bedarf zuallererst der wiedererkennbaren Strukturmerk-male oder Muster, damit überhaupt eine einen Vergleich erlaubende Orientierung zu anderen Musikwerken möglich wird. Es hieße also, reine Mustererkennung zu betreiben. Um in einem bestimmten Muster darüber hinaus auch noch eine be-stimmte Qualität zu erkennen, was Aussagen über die Güte der musikimmanenten Muster zu tätigen erlaubt, muß die qualifizierende Instanz über die „Idee“ eines formalen Grundmusters verfügen respektive es muß ein gesellschaftlich konventi-onalisiertes Musterideal vorliegen, das Aussagen darüber zu machen erlaubt, wel-che Strukturmerkmale wie und in welcher Form erfüllt sein müssen, damit eine Musik für gut oder schlecht befunden werden kann. Mit anderen Worten: Es braucht eine Vergleichsoption, an die die zu messende Sache angelegt werden kann, um aus dem Vergleich heraus das „An-Sich“ zu ermitteln.1 Damit überhaupt Aussagen über eine Musik möglich werden, muß zuvor also eine Unterscheidung getroffen werden, was Spencer Brown klar zum Ausdruck bringt, wenn er sagt: „Draw a distinction.“2 Diese Unterscheidung wird aber von dem Beobachter der Musik getroffen, der das unterstellte „An-sich“ gemäß der Un-terscheidung vorstrukturiert. „Beobachten ist jedes Operieren mit einer Unter-scheidung“, schreibt so auch Niklas Luhmann und fährt fort, „Beobachten ist also auch die Basisoperation von Verstehen.“3 Ohne diese Vorab-Bedingung, daß etwas in Differenz zu etwas anderem gesetzt ist, ist Beobachtung und ohne Beobachtung Verstehen nicht möglich. „Beobachten läßt sich all das, was in der Form irgendei-ner Differenz vorliegt oder in diese Form gebracht werden kann, vorausgesetzt, daß die Form der Differenz für den Beobachter einen Sinn macht.“4 Mit der Wahl der Unterscheidung ist aber zugleich die Art der Bezeichnung des beobachteten Phä-nomens vorgezeichnet oder deutlicher noch: Sie ist implizit damit schon geleistet. „Unterscheiden und Bezeichnen, so kann man auch sagen, sind zwei Momente ei-ner einzigen Operation. [...] Es ist wichtig zu betonen, daß bei einer Beobachtung die beiden Komponenten Unterscheiden und Bezeichnen stets gemeinsam auftre-ten.“ 5 In der Wahl der Vergleichsoption ist eine Unterscheidung geleistet und spie-gelt sich danach ein konstruktives Vorgehen desjenigen, der vorgibt, „An-Sich“- Werte ergründen zu wollen, wie auch eines jeden anderen, denn je nach dem, wel- 1 Die folgende Argumentation fußt auf wesentlichen Gedankengängen von Systemtheo-rie und radikalem Konstruktivismus über das Konstruieren einer Wirklichkeit und der Fähigkeit eines Beobachters, Beobachtungen zu tätigen. 2 Spencer Brown, George: Laws of form. London 1971, S. 3 3 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, a.a.O., S. 110 4 Willke, Helmut: Systemtheorie, a.a.O., S. 182 5 Kneer, Georg/Nassehi, Armin: Niklas Luhmanns Systemtheorie. München 1993, S. 96