SPURENSICHERUNG 255 che Unterscheidung getroffen respektive zu welchem Grundmuster die zu bewer-tende Musik in Beziehung gesetzt wird, wird auch Verstehen und somit das Urteil über etwas immer wieder anders ausfallen. Demzufolge ist der propagierte „An- Sich“-Wert einer Musik elementar gebunden und abhängig von einer womöglich Neutralität vorgebenden Instanz und real nicht existent. Der „An-Sich-Wert“ oder ein „An-Sich-Sinn“ von Musik kann dem Kritiker nicht erscheinen, gerade weil zugleich er es ist, der die Bedingungen festlegt, unter denen der Beobachtungsge-genstand in Augenschein genommen werden soll. Daraus folgt schließlich: „Die Referenz der Beobachtung ist nur vordergründig der beobachtete ‘Gegenstand’. Aufgrund der beobachterabhängigen Rekonstruktion des Gegenstandes ist die Re-ferenz der Beobachtung der Beobachter, also Selbstreferenz. [...] Festzuhalten ist also, daß die beobachtungsleitenden und informationsproduzierenden Differenzen durch den Beobachter definiert werden, nicht durch den ‘Gegenstand’“.1 Das „An-sich“ einer Musik bleibt also für den Beobachter unergründbar und auf ewig ein Arkanum, da das „An-Sich“ für jenen nur in Differenz zu etwas und damit schon nicht mehr erscheinen kann, weil dieses nurmehr nur noch im Lichte zu dem in Differenz Gesetzten erscheint, das manche Merkmale beleuchtet, andere aber zu-gleich im Dunkeln beläßt. Bleibt man bei dem von Hofstadter gewählten „Bach“ und „Cage“-Beispiel, so würde - legt man beispielsweise als Muster die Idee einer möglichst informativen Musik zugrunde und damit das Unterscheidungskriterium „informativ/nicht infor-mativ“ fest - die Bachmusik, bedingt durch die Beschränkung und Verarbeitung eines einzigen Themas, im Höchstmaße redundant erscheinen, die Cage-Musik aber infolge ihrer nicht voraussagbaren Ergebnisse dem Kriterium des Informati-ven gerecht und daher mit dem Gütesiegel des Besonderen versehen werden. Um-gekehrt aber, fragt man nach Strukturmerkmalen, wie sie der Fuge zu eigen sind, verkehrt sich die gesamte Beurteilung ins Gegenteil. Das Beispiel mag plakativ und überzogen erscheinen, verliert aber auch bei subtileren Formen der Beispiels-führung nicht seine Evidenz. Zwei Fugen zum Beispiel, welche zueinander in Re-lation gesetzt sind zum Abstraktum Fuge, werden Musikkritiker veranlassen, zwi-schen diesen eine Gleichwertigkeit oder auch ein Wertegefälle zu konstatieren und dies begründet durch ihr Wissen um den Aufbau einer Fuge. Der zum Vergleich herangezogene Maßstab wird für das letztendliche Urteil entscheidend sein. Dieser Maßstab - vom Kritiker gewählt und an die kritisierte Sache angelegt - muß aber beim Komponieren der Musik überhaupt keine Rolle gespielt haben. Selbst zwei Fugen miteinander vergleichen zu wollen und in Beziehung zu setzen, heißt folg-lich nicht, auf einen verbindlichen Kriterienkatalog - auf ein evidentes und allge-meingültiges Kompositions-/Gattungsprinzip - zurückgreifen zu können, dem sich Werkschaffende verpflichtet fühlen müssen und vor dem sich diese Werke zu ver-antworten haben, denn ein Abweichen von dem Kompositionsprinzip und damit ein offensichtliches Verletzen der Regeln in einem Falle kann vom Komponisten ausdrücklich gewollt sein wie in einem anderen Fall vielleicht sein explizites Be-folgen. Wäre es über eine rein formale Analyse hinaus noch das Ziel, aus einer 1 Willke, Helmut: Systemtheorie, a.a.O., S. 180