VON DER EINSCHREIBUNG ZUR NEUSCHREIBUNG 256 DER MUSIK Musik „An sich“, also aus einer hintergrunds- und beziehungslosen Musik eine in diese hineinkomponierte Bedeutung destillieren zu wollen, wird das dazu notwen-dige Kriterium der Unterscheidung nahezu unbeeinflußt von weiteren subjektüber-greifenden Einflüssen völlig beliebig von der beobachtenden Instanz gesetzt sein. Kritik zu üben, meint also, nicht den ursprünglichen gemeinten Sinn zu erkennen, sondern den eigenen Sinn für formale Qualität und Bedeutung zu verabsolutieren und an die gemeinte Sache - das Musikwerk - anzulehnen. Qualifizierung von Werken und der Versuch zur Sinnrekonstruktion war und ist zu einem großen Teil schon immer ein rein konstruktiver Vorgang gewesen. Die Musik „An sich“ der Kritik zu überantworten, ist nie etwas anderes, als konstruktiv den Gegenstand der Kritik sinnfällig zu machen. Konstruktion bedingt demnach, die Kriterien zur Qua-lifizierung selbst zu setzen bzw. Einvernehmen mit anderen darüber zu erzielen. Das Einvernehmen bezüglich bestimmter Unterscheidungskriterien darf aber nicht gleichgesetzt werden mit der Möglichkeit, in der Folge über subjektinterdependen-te identische Unterscheidungen zu verfügen. Denn wie das jeweilige Unterschei-dungskriterium zu verstehen ist, ist wieder subjektabhängig. Verstehen ist immer eine Selektion vor dem Hintergrund unterschiedlicher Verstehensmöglichkeiten. Das Unterscheidungskriterium „informativ/nicht informativ“ beispielsweise kann also je nach Erfahrungshorizont immer wieder anders verstanden sein. Mit anderen Worten: Jeder Versuch, sich dem „An-Sich“ einer Musik zu nähern, ist also von vornherein zum Scheitern verurteilt, eine jede Proklamation desselben immer Er-gebnis eines Schöpfungsaktes des Proklamierenden, bedingt durch jene unver-zichtbare konstruktive Geste, vorab eine Unterscheidung getroffen zu haben. So gesehen wäre ein jedes Werturteil über eine Sache vollständig nach Maßgabe des Wertenden erteilt und beliebig. Daß bezeichnende Unterscheidungen nicht der Beliebigkeit anheimgestellt sind, sondern im allgemeinen ihnen eine gewisse Wahrscheinlichkeit unterstellt werden darf, hängt mit der Operation der Auswahl des zur Unterscheidung angelegten Maßstabes zusammen. Das einzige Kriterium, das bei der Wahl des Vergleichsmaßstabes gilt, ist das der „Viabilität“, des „Pas-sens“. „Das heißt, daß wir in der Organisation unserer Erlebniswelt stets so vorzu-gehen trachten, daß das, was wir da aus Elementen der Sinneswahrnehmung und des Denkens zusammenstellen - Dinge, Zustände, Verhältnisse, Begriffe, Regeln, Theorien, Ansichten und, letzten Endes, Weltbild -, so beschaffen ist, daß es im weiteren Fluß unserer Erlebnisse brauchbar zu bleiben verspricht. ‘Brauchbar’ oder ‘viabel’ aber nennen wir in diesem Zusammenhang eine Handlungs- oder Denk-weise, die an allen Hindernissen vorbei (den ontischen wie den aus der Handlung selbst erwachsenden) zum erwünschten Ziel führt.“1 Demnach ist es - gemäß dem Prinzip des „Passens“ - zwar vernünftig, das, was nach Fuge aussieht, mit dem Prinzip Fuge in Relation zu setzen und aufgrund dieser Differenzierung zu einem Urteil zu kommen, aber keineswegs ist dies die einzig mögliche, folglich auch kei-ne richtige Unterscheidung und auch keine aus der Unterscheidung abgeleitete 1 von Glasersfeld, Ernst: Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivi-tät. In: (Gumin, Heinz/Meier, Heinrich (Hg.): Einführung in den Konstruktivismus. München 1992, S. 30