VON DER EINSCHREIBUNG ZUR NEUSCHREIBUNG 258 DER MUSIK und daher auch mancher Interpretationsvorschlag eine größere Plausibilität und somit Wahrscheinlichkeit besaß als andere Interpretationen, welche sich daher von vornherein als Möglichkeit ausschlossen. Das führt nun auch zurück zu Goulds Idee einer Musik „An-Sich“ und deren Qualifizierung wie auch zum Ausgangspunkt der Argumentation, der prinzipiellen im Computer währenden Spurenlosigkeit, durch eine jede Musik sich ihrer Refe-renzen entzogen sieht. Bleibt als einziger Bezugspunkt das musikalische Ereignis in der Zeit selbst, um so freier ist ein Kritiker in der Wahl zur Unterscheidung, das heißt, die mitlaufende Selbstreferenz bei einer jeden Beobachtung kann infolge weitgehend fehlender Fremdreferenz relativ frei über den beobachteten Gegen-stand verfügen. Aussagen über den beobachteten Gegenstand haben infolge der freigestellten Perspektivwahl dann wenig mit dem „An-Sich“ einer Musik zu tun, aber sehr viel mit dem, der beobachtet. Noch pointierter formuliert: Sie sagen mehr über den Beobachter als über die Musik aus. Fehlende Hintergrundsbezüge sind computergenerierten Werken nunmehr kon-stitutiv, was ohnehin ganz allgemein für alle elektronischen Medien gilt, denn elektronische Medien neigen dazu, „ihren Inhalt der historischen Datierung zu ent-ziehen.“ 1 Diese Enthistorisierung hat also mit den neuen Computertechnologien ih-re Fortsetzung erfahren. Wo die Zeichen im Computer nur noch für sich stehen, ist eine daraus errechnete Musik endgültig ihrer historischen Markierungen entzogen und kontextlos, steht nurmehr (nur noch) für sich, und das heißt, sie ist beliebig zu qualifizieren. Eine computergenerierte Musik ist - Formulierungen Foucaults auf-nehmend - vergleichbar mit einer Zusammenballung von Fäden zum Knoten, ohne daß die vom Knoten wegführenden Fäden noch zu anderen Knotenpunkten und damit zu einem evolutiv gewachsenen Gesamtnetz führen würden. In den Gatter-netzen von Computern führen die vom Knoten ausgehenden Fäden ins Nichts oder eben in das von Kamper genannte unterschiedslose „Zwischen“. Dabei ist es evi-dent, daß nicht nur das neu entstandene, computergenerierte und gespeicherte Mu-sikwerk dem Spurensichern entzogen ist, sondern auch das überlieferte, nunmehr implementierte Werk vergangener Jahrhunderte seiner ehernen gesicherten Spuren entzogen ist. Denn wo Computerprogramme mitunter Choräle komponieren, wel-che denen von Bach ähnlich oder gar identisch sind2, ist die Frage nach Komponis-ten nur noch von marginalem Interesse. Oder wo ohne weiteres Komponistenwerke nach eigenem Gutdünken problemlos und ohne Spuren zu zeitigen, verändert wer-den können, erscheint die Frage nach der einer Komposition innewohnenden Be-deutung obsolet. Die Suche nach Urhebern von etwas oder auch nach musikimma-nenten Werten eines Werkes wird fragwürdig und endlich bedeutungslos, da diese Frage im virtuellen Raum der Simulation nicht mehr geklärt werden kann. Zu trau-en ist keiner Referenz, so sehr diese vermeintlich auch zu bestehen scheint. Er-zeugnisse von Softwaregenerierungen sind somit nicht Signifikanten von Signifi-katen, sondern Signifikanten von Signifikanten, die keines Signifikats bedürfen. 1 Gould, Glenn: Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Schriften zur Musik 2, a.a.O., S. 145 2 Vgl. Ames, Charles: Künstliche Intelligenz und die Komposition von Musik. In: Kurzweil, Raymond: Künstliche Intelligenz. München/Wien 1993, S. 386-389