SPURENSICHERUNG 259 Und wo dies nicht geklärt wird, wird das Zeichen als evidente Spur von etwas ge-lesen. Der Bruch zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist mit den digitalen Spei-chermedien nun endgültig vollzogen. Das Zirkulieren von (musikalischen) Infor-mationen in den Gatterschaltungen von Computern macht somit die Referenz von Objekten vollends halluzinieren. Sucht man denn überhaupt eine Referenz, so liegt sie in den digitalen Zeichen selbst, wobei aber immer zu bedenken ist: „der Com-puter verarbeitet reine Symbole, die bar jeden Inhalts sind.“1 Diese Inhaltsleere macht die Bedeutungslosigkeit der digitalen Erzeugnisse sowie die konstruktive Tätigkeit von tastaturbedienenden Anwendern nur zu offensichtlich. Spurenlose (Nicht-)Existenz ist die Bedingung der Möglichkeit zur beliebigen Neustrukturie-rung und Modellierung des inhaltslos Gegebenen, so daß Wolfgang Hagen denn auch folgern kann: „Welchen Zustand ein Computer in der Darstellung eines Prob-lems generiert, ist eine pragmatische Frage, keine prinzipielle.“2 So lassen sich denn auch die von ihren Verweisen befreiten Knoten einer computerüberführten Musik nun mit anderen verweisfreien Knoten neu verknüpfen und beliebige Ver-weisungen zu einem Netz fügen, das ganz nach individuellen Vorlieben konstruiert ist. Das Ergebnis eines Produktionsprozesses im Computer ist infolge der Spurenlo-sigkeit, mit der alles im Computer verfügt wird, wie auch der universellen Wan-delbarkeit des Datenmaterials weniger als je zuvor dazu geeignet, bestimmte Inten-tionen einer Künstlerinstanz zu erschließen. Erinnert sei an dieser Stelle noch ein-mal an das KANDINSKY MUSIC PAINTER-Prg. und dessen Möglichkeit, Musikdaten zu Bildern zu verarbeiten und umgekehrt. Aussagen über das Datenmaterial sind immer abhängig von der jeweils gewählten Darstellung. Wer in einem Bild eine Grundintention eines Künstlers entdeckt haben will und dies auch mit Eloquenz, Überzeugungskraft und gewichtigen Argumenten zu begründen weiß, kann schon getäuscht sein, denn vielleicht ist jenes interpretierte Bild aus einem Musikwerk hervorgegangen (siehe dazu Noten und Grafiken am Ende dieses Abschnittes). Mit dem Computer wird nur offensichtlich, was zuvor schon statthatte: Im vor-geblich Objektiven erscheint nur das Subjekt in einem anderen Gewand. Wo das Objekt erscheint, ist das Subjekt beteiligt an der jeweiligen Erscheinung. Diese konstruktive Geste, welche von jeher jedes Urteil begleitet und bestimmt hat, wird zukünftig aus dem Ghetto des Unbewußten herausgeführt, und das heißt, der kon-struktive Umgang mit ihr wird abverlangt. Die Suche nach und das Ergründen von „An-Sich“-Werten wird aufgegeben zugunsten von Sinnkonstruktionen, die sich auch als solche ausweisen. So wird das Verhältnis von Deutung und Bedeutung umgekehrt. Den Dingen ist keine Bedeutung immanent, sondern Bedeutung ist ei-ne Frage der Zuweisung. Die an sich bedeutungslosen, aber mit Bedeutung aufge-ladenen binären Zeichen im Computer deuten nun umgekehrt auf die analoge, als bedeutungsvoll angenommene Wirklichkeit zurück: Die Bedeutung der Dinge liegt nicht in ihnen selbst, sondern in dem, der sich ihnen zuwendet. Und so wie den in- 1 Bolter, J. David: Der digitale Faust, a.a.O., S. 206 2 Hagen, Wolfgang: Die verlorene Schrift. In: Kittler, Friedrich/Tholen, Georg Chris-toph (Hg.): Arsenale der Seele, a.a.O., S. 220