VON DER EINSCHREIBUNG ZUR NEUSCHREIBUNG 260 DER MUSIK haltsleeren Zeichen erst nach einer Interpretation Bedeutung zuschießt, ist auch die gehaltvolle analoge Welt an sich bedeutungslos, der gleichsam erst nach dem Akt des Interpretierens Bedeutung zukommt. Nicht bedeuten Texte, Bilder, Musik et-was mehr, welche von Rezipienten ihrem Gehalt entsprechend zu entziffern wären, sondern umgekehrt, derjenige, der Texte und Bilder liest und Musik hört, weist - wie schon anderweitig beschrieben - den Dingen Bedeutungen zu, macht das auf ihn Einwirkende seiner Innenwelt „passend“. Und „passend“ meint zugleich, die selbstgemachte Konstruktion ist seiner Umwelt, seines Erlebnishorizontes ange-messen und somit nicht beliebig. Das Interesse verlagert sich von dem Objekt zu der Erlebenswelt des Subjekts und den Umgang, den dieses mit den undinghaften Dingen pflegt. Bezogen auf das Erschließen von Texten, was ganz genauso für den Bereich der Musik gilt, schreibt Siegfried J. Schmidt: „Die Einsicht in die Subjektabhängigkeit jeder Erkenntnis führt dazu, nicht isolierte Texte zum literarwissenschaftlichen Thema zu machen, sondern die Prozesse, die an und mit Texten in einer Gesellschaft stattfinden“.1 Es geht demnach nicht mehr um irgendwelche aus dem Text zu extrahierende Bedeu-tungspartikel, sondern um die sinnauslösenden Prozesse des Textes im Individu-um. Das Ergebnis der Auseinandersetzung mit Texten sind „Kommunikate“2: „Re-zipieren heißt Kommunikate konstruieren und nicht Sinn ermitteln.“3 Sinn entfal-ten Texte erst in der sinnproduzierenden Instanz, die sich intersubjektiv bedingt sieht, durch einen konstruktiven Akt der Sinnproduktion, wobei die - weil unzu-gänglich bleibende - Autorintention bei der Kommunikatproduktion keine Rolle spielt.4 Wo immaterielle Text-, Bild-, Musik-Komputationen nur noch Potentialitäten offenbaren, welche keine Folgen oder Spuren zeitigen, wird der Auseinanderfall der vermeintlichen Einheit Text/Bedeutung in Text und subjektdependente Bedeu-tungszuordnung - was die vorangegangenen Ausführungen bestrebt deutlich zu machen waren - evident. Daraus folgt: Wo Bedeutungen nicht erschlossen, Intentionen nicht ergründet werden können, werden die Lesarten von vornherein ohne Scheu vom passiven Rekonstruieren auf das aktive, kreative Konstruieren umgestellt, wobei Konstruie-ren nicht mehr nur den kommunikativen Prozeß des Verstehens als Handlung um- 1 Schmidt, Siegfried J.: Vom Text zum Literatursystem. In: Einführung in den Kon-struktivismus, a.a.O., S. 160 2 Genauer ausgedrückt ist mit Kommunikat gemeint: „Die Gesamtheit der kognitiven Operationen, die ein Individuum in seinem kognitiven Bereich über dem Text als Aus-löser entfaltet, nenne ich Kommunikate“ (Schmidt, Siegfried J.: Diskurs und Literatur-system. Konstruktivistische Alternativen zu diskurstheoretischen Alternativen. In: Fohrmann, Jürgen/Müller, Harro (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Ffm 1988, S. 144). 3 Ebd., S. 149 4 „Autorintentionen sind unzugänglich, da Autorkommunikat und Autortext nicht ein-fach identifiziert werden müssen“ (Schmidt, Siegfried J.: Vom Text zum Literatursys-tem. In: Einführung in den Konstruktivismus, a.a.O., S. 160).