VON DER EINSCHREIBUNG ZUR NEUSCHREIBUNG 268 DER MUSIK ben muß. Es ist also ein völlig auf den Kopf gestelltes Musizieren, was abverlangt ist. Ein enormes Öffnen des Spektrums von Anschlußkommunikationen ist die Folge, indem die eigene Musizierleistung nicht auf das je einzelne Musikstück be-zogen ist, sondern gleich auf eine Vielfalt denkbarer abzielt. Musizieren in diesem Sinne ist im höchsten Maße kontingent. „Kontingent ist etwas, was weder notwen-dig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist“.1 Ein kontingentes Musizieren bleibt nun nicht allein dem Bereich der Popularmusik vorbehalten, denn ganz ähnlich wird fortan auch mit den Werken überkommener Musiktradition verfahren. „Für unser neuestes Projekt ‘Or-chestral Colours’ von Peter Siedlaczek haben wir komplette Klangabläufe mit dem Moskauer Symphonieorchester aufgenommen. Die Herren haben erstmals ins ih-rem Leben in BPM und verschiedenen Tonarten kurze Elemente alter Meister (1 bis 3 Sekunden und GEMA-frei) eingespielt.“2 Das Zusammenspiel von Musikern aller Art wird medientechnisch organisiert als zirkulierendes Zahlenereignis. Es ist also eine neue Art des Musizierens, das sich neben den überkommenen Formen etabliert. Nicht nur nehmen einzelne Musiker nicht mehr voneinander Kenntnis, sondern sie spielen, ohne zu wissen, wofür sie eigentlich spielen. Kontingentes Musizieren heißt für Instrumentalisten, zu spielen, ohne zu wissen, wofür sie ei-gentlich spielen und in welchem Rahmen ihre Spielleistungen später Verwendung finden werden. Das noch Un-Erhörte ist in ihre spieltechnischen Bemühungen in-tegriert und erlangt so gleichsam Präsenz. Den die Einzelstimmen zur homogenen Einheit Orchester führenden Taktstock hält nicht mehr der Dirigent in Händen, sondern er wird weitergegeben an die In-stanz des Konsumenten. Für den steht nicht mehr der unmittelbare Genuß im Vor-dergrund, sondern vor den Genuß ist erst das Zusammenfügen der in Einzelverläu-fe zerlegten Werke gestellt. Diese Art der musikalischen Produktion, die zuletzt nur noch eines Datenopera-teurs, entsprechender Hardware und vorproduzierter Musikteile bedarf, ist schon zu früherer Zeit, wie das Beispiel Karl-Heinz Stockhausen und seiner „Telemusik“ aus den 60er Jahren zeigt, medienkonform praktiziert worden. In seiner 1966 in Japan produzierten „Telemusik“ fügt er isoliert produzierte und auf Tonband fi-xierte Klangmaterialien zu einem neuen Ganzen zusammen. „Die Möglichkeit, daß ich nach Afrika telephonieren kann, um eine Tonbandaufnahme zu bestellen, deren Teile ich dann mit elektronischen Klängen, die ich in Tokio herstelle, verbinde, ist eine unerhörte Tatsache, die es erlaubt, Dinge in Beziehung zu bringen, die bisher völlig unbezogen waren.“3 Wenn Stockhausen Tonbandaufnahmen „bestellt“, um diese einer nachträglichen elektronischen Manipulation zu unterziehen und dabei neue Beziehungsstrukturen aufzubauen bestrebt ist, so ist diese Situation nicht nur vergleichbar, sondern vielmehr identisch mit der eines anonymen Datenoperateurs der 90er Jahre, der gleichsam vorproduzierte Klangereignisse mit Hilfe der Digital-technik zu manipulieren sucht. 1 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, a.a.O., S. 152 2 Klaus Kandler in Keys 10/94, S. 74 3 Stockhausen, Karl-Heinz: Texte zur Musik 1963-70. Köln 1971, S 83