VOM „WERK-STÜCK“ ZUM „STÜCK-WERK“ 269 Die Idee der Isolierung von Musikteilen und ihrer nachträglichen Neuverknüp-fung ist Archivierungsmedien immanent und im Zeitalter der diskreten Archive perfektioniert und allgemein zugänglich. Mit anderen Worten: Karl-Heinz Stock-hausen bräuchte zur Produktion einer neuen „Telemusik“ nicht einmal mehr nach Afrika zu telephonieren, sondern einzig unter den verfügbaren Sampling CDs und CD-ROMs ihm adäquat erscheinende Klangereignisse auszuwählen und in seiner Funktion als neue Beziehungen stiftender Datenoperateur tätig werden. Während im traditionellen Sinne mit der Aufzeichnung ein Musikwerk seine Materialisierung sowie seinen (vorläufigen) Abschluß gefunden hat, haben jene di-gitalen Musikmaterialsammlungen ein zu gestaltendes Beziehungsgeflecht, also ein zukünftig mögliches Musikereignis im Blickfeld. Das macht es denn auch für manchen Basismaterial liefernden Künstler so spannend und aufregend, seine Spie-lergebnisse in irgendwelchen Produktionen aufzuspüren, dabei zu erfahren, inwie-weit durch den eigenen Beitrag eine Musikproduktion Charakter (oder auch nicht) verliehen bekommen hat und festzustellen, wie weit das musikalische Spektrum gestreut ist, in dem das eigene Material Verwendung findet. „The exciting part of me“, schreibt so einer jener Instrumentalisten, „will be to hear these samples being used in ways I could never imagine myself.“1 Es ist also ein Möglichkeitsfeld von Musik geschaffen, das die Vorstellungswelt von Musikern grundsätzlich über-steigt. Mit dem im Jetzt Aufgezeichneten wird die Aufzeichnung nicht mehr mit einem fixen Datum in Beziehung gebracht, sondern es ist nun damit ein in die Zu-kunft gerichtetes Denken verbunden, was andere noch zu verwirklichende Mög-lichkeiten im Blickfeld hat. Diese Geisteshaltung, welche in Datenströmen aus-schließlich ein ausgebreitetes Möglichkeitsfeld entdeckt, ist beim Umgang mit dis-kreten Archiven - welcher Art diese auch immer sein mögen - implizit dem Daten- Hantierenden mitgeteilt und hat in Bastelbaukästen, wie sie mit Sampling-CDs o-der CD-ROMs gegeben sind, nur seine spezifische, auf den Punkt gebrachte Aus-richtung und Materialisierung erfahren. 0/1-Datenströme fragen grundsätzlich nicht nach ihrer Herkunft, sondern stets danach, was damit gemacht wird. Wenn nicht die Tradition, sondern die Projektion beim Umgang mit archivierter Musik im Vordergrund steht, hat das ganz fraglos auch Folgen für festgeschriebene archivierte Musikwerke und den daran gebundenen Konnotationen oder Werten; zumal dann, wenn mit weitreichenden Datenmanipulationsoptionen ausgestattete Aufzeichnungsmedien zur Verfügung stehen. In letzter Konsequenz heißt das: Das Arbeiten mit Samplern respektive Festplattenaufzeichnungssystemen in der Musik macht auch aus geronnenen Komponistenentäußerungen variable Datenströme. Damit wird die Frage nach dem Urheber von Werken evident, denn datenmanipu-lierende Operateure akzeptieren Musik lediglich nur noch als zur Verfügung ste-hende und zu gestaltende Manipulationsmasse und fragen nicht nach Urhebern o-der anderen Autoritäten. Um so weniger noch, als daß ein Anwender kaum unter-scheiden wird zwischen CD-Archivierungsmedien, welche den Zugriff gestatten, und jenen, bei denen mit dem Zugriff irgendeine Urheberrechts-Verletzung mit 1 Naslas, Vlad (man möge diesen Namen doch rückwärts lesen, empfiehlt die Zeitschrift Keyboards). Zitat entnommen der Zero- G Funk Guitar-Sampling-CD