VON DER EINSCHREIBUNG ZUR NEUSCHREIBUNG 270 DER MUSIK dem dazugehörigen Restrisiko, gerichtlich zur Verantwortung gezogen zu werden, einhergeht. Das Musikwerk als solches stellt keine unverrückbare Tatsache oder einen bestimmten Wert mehr dar, sondern dient schlicht als Rohmaterial für zu-künftige Produktionen. Kontextuelle Bindungen oder musikimmanente Beziehun-gen werden durch die universellen Kombinationsmöglichkeiten gleichsam aufge-hoben. So entstehen schließlich Musikstücke wie das der Gruppe ‘Enigma’ oder besser, das von dem Musiker Michael Cretu in Heimarbeit zusammengestellte (gebastelte) Pop-Musikstück ‘Sadeness’, dem ein Choralchor unterlegt ist, der für dieses Stück nicht eigens aufgenommen, sondern auf Archivierungsmedien aufgespürt und ge-sampelt wurde. Ein gregorianischer Choral, von einer Platte oder CD abgesampelt und mit einem unterlegten Rhythmus zeitlich synchronisiert, macht aus mittelalter-licher Musik plus Rhythmus und Gesang moderne Popmusik.1 Was früher einmal Komponieren hieß, ist heute Montage und Collage. Die Zerhackung eines klassi-schen Werkes in Zahlenereignisse überstellt das Auslesen der Daten der Beliebig-keit. Gezählte Komponistenwerke sind somit der freien Kombinatorik desjenigen unterworfen, der in diesem Zahlenspiel kompetent ist. Längst existiert eine Viel-zahl von ‘E’- & ‘U’-Musik genannten Aufnahmen, deren ursprünglicher Aufbau und ursprüngliche Gestaltung durch Neuorganisation der diskreten Zahlenereignis-se oder durch Kombination mit anderen zu Zahlen transformierten Musikaufnah-men radikal verändert wurde. Was zu lang scheint, wird vom Operateur gleich ge-kürzt. Der innere Aufbau von Kompositionen interessiert bei solchen Permutati-onsspielen nicht, Teile eines Stückes werden herausgeschnitten, gegebenenfalls an anderer Stelle gleich mehrfach wiederholt oder ganz weggelassen.2 „Diese Varian-ten lassen sich natürlich auch klanglich anders bearbeiten. All dies, ohne Bänder zu zerschneiden.“3 Und Gerichte haben schließlich darüber zu entscheiden, worüber schon ent-schieden ist, nämlich inwiefern ein solches Synthetisieren rechtlich legitim ist, in-wiefern unterstellte Komponistenintentionen respektiert werden und wer Anspruch auf die mitunter reichlich fließenden Tantiemen hat. So wie im Bereich der Musik Zuschreibungen von Musik an Individuen nur noch Sinn machen, um GEMA-Tantiemen an Adressaten anzuweisen, konstatiert Norbert Bolz ähnliche Tenden-zen im Bereich einer aufscheinenden Hypertext-Gesellschaft. Hypertext bietet 1 Vgl. hierzu: Schatt, Peter W.: Rätsel „Enigma“: „Sadeness“ und Livestyle. In: MuB 4/91, S. 59-63. 2 Sicher hat es auch zu früheren Zeiten immer schon Werkbearbeitungen gegeben. Mu-sikwerke sind für spezielle Anlässe gekürzt, für bestimmte Orchester arrangiert wor-den, doch unterlagen solche Bearbeitungen immer irgendwelchen Beschränkungen (des Ortes, des Anlasses, der Zeit, der Materie). Die digitale Technik garantiert nun-mehr die allgemeine Verfügbarkeit und Nutzung, des weiteren ein spurenlos, jederzeit reversibel bleibendes Manipulieren, und moderne Technologie macht somit das Vari-antenprinzip zum allgemein gültigen Gestaltungsprinzip von Musik überhaupt. 3 Merck, Alex: Arrangieren mit dem Computer, a.a.O., S. 63