VON DER EINSCHREIBUNG ZUR NEUSCHREIBUNG 274 DER MUSIK neuen digitalen Aufzeichnungsmedien steht. Mit der Implementierung des neuen Leitmediums Computer in die Gesellschaft werden nicht nur neue Wertekategorien geschaffen, sondern zugleich überkomme-ne auf ihre medienimmanente Relevanz hin überprüft, womit deren Gültigkeit gleichsam in Frage gestellt ist. Erst die Tatsache der Objektivierung, die Möglich-keit zum Vollzug einer Verschriftlichung von Musik, vermochte Musik beispiels-weise in den Stand eines autonomen, in sich abgeschlossenen Werkes zu erheben.1 Dies ist nicht zuletzt auch durch den Akt der Niederschrift ausgedrückt, welcher gekennzeichnet ist durch eine „eindringende, eindringliche Geste“2, welcher also dauerhafte Spuren in der Materialität des zu informierenden Gegenstandes hinter-läßt. Die Kanonisierung von Musik, ihre Konstituierung zum autonomen Werk ist angewiesen auf ihre Hypostasierung und hat darin ihre Bedingung, da erst mit der Niederschrift und dem Druck das so Gestaltete auf Dauer festgeschrieben und überliefert werden kann. In Schrift und Buch(druck) als über Jahrhunderte unange-fochten gültigen und epochebestimmenden Leitmedien hat folglich die Idee von der Abgeschlossenheit von Werken ihre Letztbegründung. Doch ist in jenen Materialisierungen nur ausgedrückt eine Momentaufnahme von grundsätzlich nicht endlichen Diskursen. Werken, welcher Provenienz auch immer sie sind, ist das Weiterverknüpfen konstitutiv. „[D]er Autor fängt niemals an, er fährt nur fort zu schreiben“3, schreibt Aleida Assmann, was selbstredend für alle produzierenden Instanzen gilt. Kompositionen vergangener Zeiten lassen sich demnach seit jeher auch immer nur als Fortschreibungen ehemaliger Vorschriften lesen, welche selbst einst Fortschreibungen vergangener Vorschriften waren. Und was sich immerzu fortschreibt und in Archiven seine Materialisierung erfährt, kann auch niemals vollendet oder auch nur beendet sein oder werden. Das Speicherar-chiv legt die Bedingungen für Autonomie, Abgeschlossenheit wie auch für den Gedanken von ewig währenden Werken fest. Das scheinbar Endgültige war immer schon momentane Zwischenschrift des Gedachten ohne konkreten Anfang und oh-ne ein definitives Ende. Erinnert sei noch einmal an Michel Foucaults Bild vom Buch als einem Knoten in einem Netz, das auf vielfältigen Verweisungen beruht. Jenes Bild ist übertragbar auf alle medialen Materialisierungen von Gedachtem.4 Auch der Urheber von Werken ist gleichsam in ein Netz von Verweisungen einge-taucht, derer er im einzelnen gar nicht Gewahr wird. Gottfried König meint des-halb auch zu recht, „daß einem Komponisten nur ‘einfällt’, was er bereits weiß“.5 Und was er weiß, ist bestimmt eben dadurch, daß er nur Sammelbecken vielfältiger medial gelenkter Diskurse ist. So wird die Instanz des Urhebers ersetzt durch ge- 1 Vgl. Dahlhaus, Carl: Über den Zerfall des musikalischen Werkbegriffs. In: Ders.: Schönberg und andere, a.a.O., S. 283 2 Flusser, Vilém: Gesten, a.a.O., S. 39 3 Assmann, Aleida: Exkarnation - Gedanken zur Grenze zwischen Körper und Schrift. In: Huber, Jörg/ Müller, Alois Martin (Hg.): Raum und Verfahren, Basel 1993, S. 154 4 Vgl. Foucault, Michel: Archäologie des Wissen, a.a.O., S. 36 5 Koenig, Gottfried, In: Stürzbecher, Ursula: Werkstattgespräche mit Komponisten, a.a.O. S. 25