VOM „WERK-STÜCK“ ZUM „STÜCK-WERK“ 275 sellschaftlich geregelte und bestimmte Diskursformationen. In dem als Werk sich konstituierenden Gedachten ist nicht danach zu fragen, was ein Urheber sagt oder ausdrücken wollte, sondern danach, von wo aus, von welcher gesellschaftlichen Position und aus welcher gegebenen Situation heraus dieser etwas gesagt hat1, denn „[d]ie individuellen Subjekte können die Diskurse nicht aus nichts hervor-bringen.“ 2 Eine sich ausdrückende Individualität, die sich im archivierten Werk manifes-tiert, ist immer nur das Ergebnis zahlreicher, im einzelnen gar nicht mehr lokali-sierbarer Kommunikationsflüsse und damit zahlloser mitschreibender Autoren-instanzen, die auch und gerade die medialen Bedingungen autorisiert. Und mit dem Medium Computer wird die Offenheit des schon Gedachten für Veränderungen, bedingt durch die Beschleunigung der Fortschreibung, nunmehr augenscheinlich. Unter Bedingungen eines instantanen Daten-Processings bemißt sich Ewigkeit nur noch nach der Zeit, die es braucht, um das scheinbar ewig Wäh-rende neu zu kombinieren. Wo jedes Ereignis im Computer sich in die endlos ma-nipulierbaren Zustände ‘1’ und ‘0’ auflösen läßt, eine jede Speicherung zudem immateriell und folglich spurenlos verfährt, verbleibt alles im Raum der Virtuali-tät. In einem Medium, das ausschließlich simulativ prozediert, ist alles Prozeß, was eine definitive Entscheidung für das eine oder andere umgehen läßt zugunsten des immerwährenden ‘sowohl als auch’. Und daraus folgt: Nichts ist mehr gewiß und nichts mehr von Dauer, alles ist nur noch zur sofortigen Refraktion freigegebene Momentaufnahme. „Die heutigen Werke widmen sich ganz bestimmt nicht der imaginären Ewigkeit. Sie werden gemacht, um reproduziert, genauer, kopiert zu werden. Ihre Herstellung steht im Zeichen der möglichen Medienschaltungen. [...]. Betrachten wir die Medien als Rohstoff, stehen sie mit all ihren replays dem Künstler zur Verfügung.“3 Musikwerke sind demnach nicht mehr als Invarianten zu denken, sondern als verwirklichte Möglichkeiten, welche zugleich auf ihre vir-tuelle Weiterverknüpfung hin überprüft werden, was eben Ergebnis dessen ist, daß„das Virtuelle existiert, ohne wirklich zu existieren, denn es verdichtet sich im Möglichen.“4 Dieter Schnebel hat schon früh in den 60er Jahren, als mit Tonband und Schere die konkreten Vorbilder einer immateriellen digitalen Schnittechnik verfügbar und damit in Umrissen die mit einem universellen Zugriff einhergehenden Implikatio-nen schon erfahrbar waren, auf die Auflösung des Werkes und des Werkgedankens generell hingewiesen. Auf bestimmte Komponistenentäußerungen von Kagel, Stockhausen u.a. verweisend, ließen ihn vorausschauend folgern: „In derlei Stü-cken ist Musik kein Fertiges mehr. Das als Großform konzipierte und bis ins Detail 1 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Ffm 1991 sowie ders.: Archäolo-gie des Wissens, a.a.O. 2 Sluga, Hans: Foucault in Berkeley: Der Autor und der Diskurs. In: Schmid, Wilhelm (Hg.): Denken und Existenz bei Michel Foucault. Ffm 1991, S. 276 3 Agentur Bilwet: Medien-Archiv, a.a.O., S. 175, 176f. 4 Couchot, Edmond: Die Spiele des Realen und des Virtuellen. In: Rötzer, Florian (Hg.): Digitaler Schein, a.a.O., S. 350