VOM „WERK-STÜCK“ ZUM „STÜCK-WERK“ 277 Gesamtwerk per Post zu“1, welche dann von den „Coders“ zum Gesamtwerk ge-fügt werden. Persönliche Begegnungen finden kaum statt. Namenlos bleibt der einzelne bei einer solchen Produktion, so daß als einziges Identifizierungsmerkmal der Gruppenname Auskunft über die trotz alledem anonym bleibenden Hersteller des Demos gibt. Kaum fertiggestellt, erzeugen jene Produkte nur noch Langeweile und sind schon wieder vergessen, denn ein neues Produkt will generiert, um ver-gessen zu werden. Solche Produktionen leben einzig aus dem Unterhaltungswert, die der Effekt gebiert. Dem Effekt ist es aber zu eigen, nur im Moment seines ers-ten Auftretens und in seiner Eigenschaft als Effekt von Interesse zu sein. Kurzwei-lige Unterhaltung ist damit auf die unablässige Neuproduktion von Effekten ange-wiesen. Andere Kunstgattungen wie die Radiokunst tragen den medialen Bedingungen und Verknüpfungsmöglichkeiten gleichsam Rechnung, wenn sie über Wochen an-dauernde interaktive Klangbegegnungen inszenieren - selbst dort, wo neben „Neuen Medien“ wie „Slow Scan TV“, „Bildtelephon“, „FAX“ und „Computer-netzen“ noch „Alte Medien“ wie das „Telephon“ zum Einsatz kommen: „Mit Sound, Musik, Sprache, Text - und wenn möglich Bild - wurde versucht, über ei-nen bestimmten Zeitraum hinweg einen Raum, [...], als skulpturalen Raum aus der Zeit herauszuheben. Die an den verschiedenen Orten unterschiedlich strukturierten Events beeinflußten jeweils die Events an den anderen Orten und wurden selbst wiederum durch den Input der physisch andernorts anwesenden Teilnehmer/User beeinflußt. Dabei wird nicht so sehr der einzelne, oft nicht einmal von Künst-lerInnen stammende Beitrag, sondern vielmehr die nicht mehr in allen Verästelun-gen nachvollziehbare, unwiederholbare Gesamtgestalt solcher Events (von denen sich manche über Wochen hinzogen) als ‘Kunstwerk’, d.h. als Skulptur, als Kollektivkomposition oder Kollektiverzählung betrachtet.“ Heidi Grundmann ergänzt diese Aussagen schließlich: „In echten Netzwerkprojekten fallen RezipientInnen und AutorInnen zusammen“.2 Das alles zusammen fügt sich schließlich zu dem Modell der „Kammermusik“ von Vilém Flusser, welches stellvertretend für eine dialogisch geschaltete und ver-netzte Gesellschaft stehen soll und lohnt, in einem längeren Zitat ausgeführt zu werden. In jenen Projekten der Computer- oder Radiokünstler ist Vilém Flussers Vision einer Gesellschaft, die nicht mehr in Sender und Empfänger aufgetrennt ist, sondern nur noch gleichberechtigte Sender kennt, schon ansatzweise realisiert. Hinter der Begrifflichkeit der „Kammermusik“ verbirgt sich die Vorstellung von improvisierenden Musikern, deren Spielergebnisse unaufhörlich auf einem Ton-band aufgezeichnet und überschrieben werden: „Die Grundlage eines derartigen Musizierens ist eine ‘ursprüngliche’ Partitur, ein Programm, eine Vorschrift. Aber sie wird sehr bald hinter dem Horizont der Kammermusiker verschwinden, denn diese werden anhand von Tonbändern von Tonbändern von Tonbändern, von im-mer neu programmierten Gedächtnissen improvisieren. Es gibt bei der Kammer- 1 Dworschak, Manfred: Graffiti für den Bildschirm. In: Die Zeit Nr. 28 vom 09.07.93, S. 53 2 Grundmann, Heidi: Interplay. Radiokunst als Kunst im Datenraum, a.a.O., S. 18