VON DER EINSCHREIBUNG ZUR NEUSCHREIBUNG 278 DER MUSIK musik keinen Dirigenten, keine Regierung. Wer den Takt angibt ist jener, der gera-de vorübergehend das Wort führt. Trotzdem ist aber gerade bei der Kammermusik die Exaktheit der Regelbefolgung entscheidend. Sie ist kybernetisch. Die Kam-mermusik ist ‘reines Spiel’, sie wird von Spielern für die Spieler selbst gespielt, und Zuhörer sind überflüssig und störend. Nicht das Zuschauen (Theorie), sondern das Mitspielen (Strategie) ist ihre Methode. Jedes Instrument spielt, als sei es solo, und gerade deshalb, als sei es Begleitung. Jeder spielt für sich selbst, und gerade deshalb mit allen anderen. Jeder improvisiert gemeinsam mit allen anderen, das heißt hält sich an genaue Regeln (Konsensus), um diese im Laufe des Spiels ge-meinsam mit den anderen zu verändern. Jeder Spieler ist zugleich Sender und Empfänger von Informationen, und sein Ziel ist, daß daraus eine neue Information synthetisiert werde, um aus dem Spiel emporzutauchen. Diese Information ist ‘rein’, hat keine dingliche Unterlage, außer selbstredend dem Tonband.“1 Und je-nes Tonband bleibt ein ewig überspielbares Gedächtnis. Die Bedeutung dieses Spiels liegt einzig in ihm selbst. Schon in Vilém Flussers Wahl, die Gattung der Kammermusik als Metapher für eine dialogisch geschaltete Gesellschaft zu setzen, sind die neuen Kommunikati-onsverhältnisse präzise ausgedrückt, ist die Kammermusik - im Gegensatz zur Konzertmusik - in ihren Ursprüngen doch eine gesellige Musik, an der aktiv Anteil zu nehmen gesucht wurde. „Die eigentlichen Hörer sind jedenfalls die Mitwirken-den selbst“, schreibt so Carl Dahlhaus, jene Gattung charakterisierend: „Gesellige Musik tendiert, um grobe Kategorien zu gebrauchen, als musikalisches Abbild ei-nes Gesprächs zur Polyphonie, in der die Stimmen mit gleichen Rechten zusam-menwirken und ineinandergreifen.“2 In der Kammermusik hat das Musizieren eben eher den Charakter eines „Gesprächs“ mit Fragen stellenden wie Antworten ge-benden Teilnehmern, ohne daß zwischen diesen noch hierarchisch unterschieden werden würde, ohne daß also Gesprächsvorrechte eingeräumt wären. Wenn weiter das aktive Tun im Vordergrund steht und nicht mehr das passive Rezipieren - wie bei der Konzertmusik gegeben -, so hieße das, „sich auf musikalische Augenblicke, die zu Aktionen herausfordern oder nicht, zu konzentrieren, also von Moment zu Moment zu hören.“3 Und damit ist ausgesagt, daß die Musik eine neue Qualität er-fährt, wie sie nur durch das aktionsbedingte, gleichberechtigte Tun von Musizie-renden Gestalt annehmen kann, und zugleich die überkommenen Formen der Mu-sik zurückgenommen wären: „Die Konsequenz eines Zerfalls der Institution des Konzerts wäre die Reduktion der musikalischen Form zur Momentform, wie Stockhausen sie nannte, zur Reihung von musikalischen Augenblicken, die sich in sich selbst erschöpfen.“4 1 Flusser, Vilém: Ins Universum der technischen Bilder, a.a.O., S. 135/136 2 Dahlhaus, Carl: Über den Zerfall des musikalischen Werkbegriffs, a.a.O., S. 280 3 Ebd., S. 281 4 Ebd., S. 281 Das Kammerorchester wurde als Klangkörper zu Beginn dieses Jahrhunderts von den Musikschaffenden neu entdeckt, denn der „Instrumentenbau hatte viele frühere Spiel-schwierigkeiten beseitigt und fast allen Instrumenten eine optimale Form gegeben;