VOM „WERK-STÜCK“ ZUM „STÜCK-WERK“ 279 Unter neuen Medienbedingungen erhält der Begriff des Kammerorchesters wie der der Kammermusik seinen neuen Sinn. Mediennetzwerke bieten optimierte Kommunikationsflüsse an, welche ähnlich wie es durch die optimale Formgebung der Instrumente gegeben war, nunmehr ein individualisiertes Anteilnehmen am Gesamtgeschehen Musik erlauben und dieses in den Mittelpunkt rücken. Also nicht mehr „Ein-“ noch „Unterordnung“ durch musikalische Einwegkommunikati-on ist dem Rezipienten abverlangt, sondern die gleichberechtigte Akzeptanz durch grenzenlos zirkulierende Zweiwegkommunikation. Und das Ergebnis solcher „Partner-“arbeit sind dann sich selbst genügsame Momentformen, in sich selbst er-schöpfende musikalische Augenblicke. War es in Vilém Flussers Kammermusik noch das Tonband, daß in diesem Mo-dell als Träger der übermittelten Gespräche fungiert, so ist es in der vernetzten Ge-sellschaft das diskrete Archiv, und alles, was in diesen Archiven gelagert ist, ist den neuen Archivaren dieses diskreten Zeitalters zugänglich und dynamisch verän-derbar. Netzwerkgenerierte Kompositionen sind dann hervorgegangen aus in-tersubjektiven und dialogisch gestalteten Prozessen, wobei folglich das aktive An-teilnehmen an jenen Prozessen Priorität vor dem eigentlichen Ergebnis erfährt. Die Qualität eines im Moment des Emportauchens schon wieder Entschwindenden ist eher sekundär.1 Integriert in jene Netzwerkschleifen, hieße Kritik an jenem Prozeßüben zu wollen, Hand an das Kritisierte zu legen und das neu Entworfene anderen zur handanlegenden Kritik zu überantworten. In den diskreten Archiven ist - das ist die Evidenz des bisher Gesagten - ein neues Wertebewußtsein und eine Dynamisierung aller Werke angelegt. Nicht mehr Kontemplation und das beschauliche Tun zum Schaffen von Werken ist mehr nachgefragt, nicht mehr die auf Dauer angelegte Hypostasierung von Denkvorgän-gen in Werken und damit Werten ist dem neuen Zeitalter konstitutiv und angemes-sen, sondern das augenblickliche Tun und die unablässige Rekombination und An-reicherung des Vorgefundenen. Der Wert eines solch dialogisch geschaffenen Werkes bemißt sich demnach nicht mehr nach einer ihm unterstellten innewohnen-den Bedeutung, sondern in den vielfältigen Möglichkeiten zum Anschlußschaffen oder anders ausgedrückt: den Möglichkeiten zur Anschlußkommunikation.2 [...]. Dadurch wurde das Einzelinstrument auch für den Klangkörper, das Ensemble in einem neuen Sinn interessant. Es war diesem nicht mehr ein- und untergeordnet, son-dern bot sich mit seinen besonderen Eigenschaften als Partner an“ (Erpf, Hermann: Lehrbuch der Instrumentation und Instrumentenkunde. Mainz 1959, S. 276). Mit dem Kammerorchester wurde also eine völlig neue Tradition geschaffen, in der das Ensem-ble nicht als verkleinertes Orchester begriffen wurde, sondern dessen Einheit ergab sich „von seiner Zusammensetzung aus individualisierten Einzelinstrumenten“ (ebd., S. 276). 1 Eine Qualifizierung wäre auch kaum sinnvoll, denn zu bewerten wären bestenfalls Momentaufnahmen aus dem Ganzen, aber nicht der Prozeß selbst. Damit aber würde man dem Gesamtereignis nicht mehr gerecht werden. 2 Vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, a.a.O., S. 191-242