VOM „WERK-STÜCK“ ZUM „STÜCK-WERK“ 283 nung, indem sie auf überkommene und diskrete Archive bedenkenlos zugreifen. Archivierungsmedien wie Tonband, Schallplatte und CDs bilden den Steinbruch, aus dem heraus Datenpartikel um Datenpartikel herausgebrochen wird. „Ein Mann mit einem Computer sieht überall Daten“1, mit denen konstruktiv umgegangen sein will, welche also informiert sein wollen. In dem neuen Bewußtsein von der reinen Datenhaftigkeit bestehender Werke lassen sich Symphonien, Opern und Choräle ohne schlechtes Gewissen beliebig neu sortieren und kombinieren. Die Namen von Komponistengrößen verflüchtigen sich dann in den Gatterschaltungen der Compu-ter, vermischen sich mit anonymen Medienarrangeuren, welche für sich selbst, in dem Wissen um ihre Anonymität, auch ganz folgerichtig kein „Copyright“ mehr proklamieren. Es ist vom Kunstwerk und dessen Kunstwert umgestellt auf den reinen Ge-brauchswert einer Kunst. Damit ist aber nur endgültig vollzogen, was Walter Ben-jamin mit der Auflösung der Aura in seinem Kunstwerk-Aufsatz schon in den 30er Jahren proklamiert hat. Die Kanonisierung wie Auratisierung von Kunstwerken ist, da alles, was - wie verschriftliche Werke auch - zur Gegenständlichkeit neigt und - „nicht unähnlich einem kultischen Gegenstand“2 - Distanzen schafft, mit den „Neuen Medien“ respektive mit dem „Neuen Medium „ Computer aufgehoben.3 Das neue Medium der Einschreibung, das speichert, ohne einzuschreiben, aktua-lisiert eine Sinndimension, die nicht mehr mit der Einheit der Differenz von Werk/ Nicht-Werk prozediert, sondern mit der Einheit der Differenz von anschlußfä-hig/ nicht-anschlußfähig. So werden mit dem neuen Differenzmuster in Werken nicht mehr Vollendungen gesucht, wo ohnehin seit jeher nur Verzweigungen herrschten, sondern Verzweigungen, an die anzuschließen denkbar ist. Zukünftig wird so zu sprechen sein vom leeren Werk, das auf seine Leerstellen hin zu sondie-ren ist. Das bedarf der weitergehenden Erläuterung, denn was genau ist zu verste-hen unter einem leeren Werk: Unter einer Leerstelle ist in den Geisteswissenschaf-ten - genauer: in der Rezeptionsästhetik4 - bekanntlich verstanden eine Textbruch-stelle. Das meint: Inhaltliche Aussagen schließen nicht sinn-ergänzend/erschlie-ßend aneinander an, sondern vielmehr fehlt zum Verständnis von Textaussagen ein das nebeneinander Stehende koppelnder Textbaustein, den hinzuzufügen gedankli-che Aufgabe des Lesers ist. Somit sind Leerstellen, wie Iser sagt, „Unter-brechungen der Anschließbarkeit“5 bedeutet, und Aufgabe des Lesers ist es nun, daran anzuschließen, eine Beziehungslosigkeit inhaltlicher Aussagen durch Füllen der Leerstellen - also durch Beziehungstiftung - zum Sinnganzen hin aufzulösen. In Leerstellen sind so Anknüpfungsangebote respektive Anweisungen zum eigen- 1 Postman, Neil: Sieben Thesen zur Medientechnologie, a.a.O., S. 15 2 Dahlhaus, Carl: Über den Zerfall des musikalischen Werkbegriffs, a.a.O., S. 282 3 Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit, a.a.O. 4 Besondere Erwähnung bedarf in diesem Zusammenhang Roman Ingarden, der mit sei-ner phänomenologischen Kunstwerkauffassung und seinem für das Interpretieren von Kunstwerken entworfenen Schichtenmodell der Rezeptionsästhetik den eigentlichen Grund legte (vgl. Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk. Tübingen 41972) 5 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. München 1976, S. 285