VON DER EINSCHREIBUNG ZUR NEUSCHREIBUNG 288 DER MUSIK flüsse verlieren in dem Maße an Bedeutung wie die Kommunikationsmöglichkeit mit der Welt voranschreitet, so daß also auswärtige Einflüsse das kulturelle Um-feld mehr und mehr bestimmen können. Im Endeffekt wird dies die Angleichung kultureller Eigenarten. „Kulturen lassen sich nicht transplantieren, auch wenn sie sich durch die Verkürzung der Verkehrswege - oft irritierend und mit verheerenden Folgen - einander näher gerückt sind“1, schreibt zwar Ulrich Dibelius zurecht, doch wenn auch zur Transplantation nicht geeignet, so sind doch nähergerückte Kultu-ren in einen kybernetischen Regelkreis des Gebens und Nehmens eingeflochten, der einen allmählichen kulturellen Wandel nach sich zieht. Innerkulturell gewach-sene Musik-Lebenswelten und in diesen Kontext gewachsene Bedeutungshorizonte einer Musik verlieren bzw. werden zu etwas anderem transformiert. Das Netzwerk von Beziehungen, in dem diese stehen, ist dabei in Auflösung begriffen und neue interkontinentale sind geknüpft. Die kulturelle singuläre Lebenswelt vermag dabei ihre Ausprägungen und Identität nur insoweit in das neue nunmehr globale Bezie-hungsgeflecht mit einzubringen und zu erhalten wie diese sich den medialen Be-dingungen nicht entgegenstehen. Und diese medialen Bedingungen schreiben Kul-tur als reinen Medieneffekt fort. Unter modernen Medienbedingungen krümmt sich jede Zeit, die ehedem benö-tigt wurde, um sich (musikalische) Lebenswelten und deren Traditionszusammen-hänge zu erschließen und die sich nach Jahren und Jahrzehnten bemessen konnte, ins Instantane. Die Pluralität verfügbarer Lebenswelten ist nicht mehr als eine an sich selbst erlebbare Realität zu erfahren, sondern nur noch als eine augenblicklich vermittelte Fremderfahrung, welche sich bekanntlich - wie schon beschrieben - nur noch als Medieneffekt mitteilt. Solange Reisen noch nicht im reinen Zustand der Energie stattfand, brauchte es Zeiten des Transportes und also Zeiten der Annähe-rung, verstanden im Sinne einer räumlichen wie geistigen Annäherung an ein Ziel-objekt. Bewußtes Handeln erfordert Bewegung und damit zugleich Zeit zum Han-deln. Aus der Verschränkung von Geist und Körper wie Zeit und Raum ergeben sich die Koordinaten zur Wirklichkeitskonstituierung von Welt. Die Veränderung dieses Koordinatengefüges bedingt im Ergebnis eine andere Wahrnehmungsweise, und daraus leitet sich eine andere Wirklichkeitskonstituierung ab. Durch die abso-lute Domestikation der Zeit und die Exteriorisierung des Nervensystems verliert sich der konkrete Raum-Bezug. Die eingenommene Raumstelle zur Durchschrei-tung der Welt wird zunehmend beliebig und damit auch die konkrete Raum-Zeit- Erfahrung. Die Reichweite des Menschen ist nunmehr global definiert und ledig-lich abhängig von der Verfügbarkeit von Computerterminals und Bildschirmen. Von der Auflösung des Koordinatensystems von Zeit und Raum wie Geist und Körper bzw. von der Veränderung des Relationsgefüges zugunsten der Immateria-lien und zuungunsten der Materialien ist auch das überkommene Traditionsgut be-troffen, da dieses durch ein verändertes Wertebewußtsein gleichsam einer Neuer-schließung und Neubewertung unterworfen ist. Musikkommunikation, -produktion wie -konsumption ist fortan eingebettet in das weiter sich vervollständigende Me-diennetzwerk. Der Medienverbund, bestehend aus reinen Distributions- und inter- 1 Dibelius, Ulrich: Moderne Musik II. München 21989, S. 84/85