KÜNSTLERLEBENSWELTEN 313 darüber hinausgehende Systemkenntnis, die selbst zum systemgerechten Schreiben und Denken befähigt, denn: Der alphanumerische Code verliert an Bedeutung zu-gunsten eines reinen Zahlencodes zur Formulierung von Algorithmen. Zugleich geht mit der Abkehr von einer materialitätsgebundenen Inskription auch ein verändertes Verhältnis des Menschen zum Wissen und zur Bildung ein-her. „Das alte Prinzip, wonach der Wissenserwerb unauflösbar mit der Bildung des Geistes und selber der Person verbunden ist, verfällt mehr und mehr.“1 Nicht mehr der persönliche Wissenserwerb ist primär notwendig, sondern die Kenntnis um die Zugriffsmöglichkeiten auf bestimmte Datenbanken, in denen die wissenswerten In-formationen abgelegt sind. Diese Zugriffskompetenz, die nicht mehr auf das Einla-gern von Informationen ins eigene Gedächtnis abzielt, sondern das Operieren mit Computergedächtnissen in den Vordergrund stellt, legitimiert sich folglich auch darin, daß sich die Welt als eine Welt des Wissens darstellt, in der Kompetenz bes-tenfalls in eng umgrenzten Bereichen noch ausgebildet ist. Unter Bedingungen ei-nes instantanen Computer-Processings wird diese in Wissensfragmente gegliederte Welt eine weitere Zergliederung erfahren und werden Wissenschaftler einzig im Detail-Wissen sich zu beweisen vermögen. Fragmentiert wie jene Wissenswelt ist, begegnen sich deren Vertreter nur noch mit Verständnislosigkeit: „in ihr herrscht nicht die Leibnizsche Monade, in der sich auch in Wissensdingen ein Universum spiegeln soll, sondern der Spezialist, in dem sich fast nichts mehr oder nur noch (frei nach Schiller) eine geteilte Erde spiegelt. Wer immer mehr von immer weni-ger weiß, ist auf die Rückseite der Universalität geraten; er sucht sie im Detail, das für ihn nun das Ganze ist.“2 Der Mensch bewegt sich nicht mehr in einer Welt, über die er im umfassenden Maße etwas wissen kann - abgerufene Informations-quanten deshalb auch nicht mehr konsequent hinterfragbar sind -, sondern in einer Welt, über die er sich mit dem Zugriff auf in künstlichen Gedächtnissen eingela-gertes Wissen eine Meinung bilden kann, wobei die je gebildete Meinung auf dem Glauben über die Richtigkeit des Abgerufenen gründet. Ein nicht erst mit dem Aufkommen des Computers vom Menschen nicht mehr leistbares Monadentum, welches zudem infolge der immer rascher anwachsenden Informationsquantitäten selbst einen jeden Versuch dazu zur Illusion geraten läßt, ist delegiert an die dis-krete Maschine, denn diese vermag als absoluter und, was wesentlich ist, als ein nichts vergessender Gedächtnisspeicher menschlichen Wissens zu funktionieren. Da es sich zudem um einen fortwährend mit weiterem Wissen aufzufüllenden Speicher handelt, greift Jean-François Lyotard die Idee der Leibnizschen Monade auf und spricht von einer sich vervollständigenden Monade nunmehr auf seiten des Computers, davon ausgehend, der Computer „sei im Begriff, eine sehr viel ‘voll-ständigere Monade’ zu erzeugen, als es die Menschheit selbst jemals hat sein kön-nen.“ 3 Mit dem Wachsen der Speicherkapazität wächst auch das Wissen exponen- 1 Ebd., S. 24 2 Mittelstraß, Jürgen: Leonardo-Welt, Aspekte einer Epochenschwelle. In: Kaiser, Gerd/ Matejovski, Dirk/Fedrowitz, Jutta (Hg.): Kultur und Technik im 21. Jahrhundert, a.a.O., S. 25 3 Lyotard, Jean-François: Das Inhumane, a.a.O., S. 118