Die Ästhetisierung der (Unterrichts-)Welt „Nachgeschichte ist vielleicht ein Leben in der Schönheit.“1 Die Vernunft ist dazu angeregt, den schönen Dingen ihren Grund zu geben, den ganzen, nicht unerheblichen Rest aber als grundlos einzustufen. „Oh, wie un-schön!“ urteilte Einstein so über manche Gleichung, und H. Bondi erläutert: „So-bald ihm eine Gleichung häßlich erschien, verlor er fast jedes Interesse an ihr und konnte nicht verstehen, wie jemand bereit dazu war, seine Zeit damit zu vertun. Er war vollständig davon überzeugt, daß der Ästhetik bei der Suche nach wichtigen Erkenntnissen der theoretischen Physik eine führende Rolle zukommt.“2 Und Hel-mut Hasse schreibt über die Bedeutung der Ästhetik in der Mathematik: „Man hat ein ungelöstes Problem vor sich und sieht zunächst gar nicht, wie die Lösung lau-ten, noch weniger, wie man sie finden könnte. Da kommt man auf den Gedanken, sich einmal auszumalen, wie die gesuchte Wahrheit lauten müßte, wenn sie schön wäre. Und siehe da, zunächst zeigen Beispiele, daß sie wirklich so zu lauten scheint, und dann gelingt es, die Richtigkeit des Erschauten durch einen allgemei-nen Beweis zu erhärten. ... In dieser eben dargelegten intuitiven Art des Schaffens ähnelt der Mathematiker ... dem Künstler. Man denkt gemeinhin, daß mathemati-sche Wahrheiten durch logische Denkprozesse gewonnen werden. Das ist aber kei-neswegs immer der Fall. Gerade die größten und auf lange Zeit richtungsweisen-den mathematischen Entdeckungen sind zuerst mit dem geistigen Auge erschaut worden, so wie dem schaffenden Künstler sein Werk schon vor Beginn der Arbeit als Ganzes vor Augen steht.“3 Schöne Dinge sprechen die Sinne an und lohnen der Überprüfung durch die Vernunft auf ihre Gesetzmäßigkeit. Wenngleich also Er-kenntnisfindung immer wieder in ästhetischen Prozessen ihren Ursprung hat, hat in einem zweiten Schritt die Sinnesarbeit zurückzutreten und dem vernunftmäßigen Denken den Vortritt zu lassen. Diese einseitige Betonung der Kognition zuletzt zu Lasten der Sinne ist Kenn-zeichen für unser westliches Gesellschaftsgefüge, das, gefaßt in ein Epochensche-ma, als Moderne klassifiziert wird. Die Moderne ist durch das Bestreben gekenn-zeichnet, den Dingen auf den Grund zu gehen oder anders ausgedrückt: geleitet von dem Interesse um wahrhafte Erkenntnis. Und für wahr genommen wird allein das, was sich dem rationalen Denken erschließt. Wiewohl man heute um die Prob-lematik einer solchen Zielsetzung längst weiß, bleibt ein modernes Denken dem Wahrheitsaxiom insofern ungebrochen verhaftet, als daß formulierte Gesetze zwar 1 Flusser, Vilém: Ende der Geschichte, Ende der Stadt? Wien 1992, S. 20 2 H. Bondi, zitiert nach: Zee, Anthony: Magische Symmetrie. Die Ästhetik der moder-nen Physik. Ffm/Leipzig 1993, S. 15 3 Helmut Hasse, zitiert nach: Metzler, Wolfgang: Schöpferische Tätigkeit in Mathema-tik und Musik. In: Götze, Heinz/Wille, Rudolf (Hg.): Musik und Mathematik. Ber-lin/ Heidelberg/N.Y./Tokio 1985, S. 49