DIE ÄSTHETISIERUNG DER (UNTERRICHTS-)WELT 327 nicht zu verstehen im Sinne der schönen Künste, sondern im Sinne von wahrneh-men, erleben. Wahrnehmung hat dabei erkenntnisleitende Funktion. Damit ist kei-nem vernunftslosen Fühlen das Wort geredet, sondern des Wechselspiels zwischen Wahrnehmung/Sinnesorganen und Vernunft gedacht und beide Vermögen als gleichberechtigt respektiert. Was wahrgenommen werden kann, ist gebunden an das jeweilige Denken wie umgekehrt das Vermögen zu denken abhängig von der Gesamtheit der reizaufnehmenden Sinnesorgane ist.1 Eine ästhetische Erziehung respektiert also die eigene Wahrnehmung und stellt sie in den Mittelpunkt aller Erziehung. Was zuletzt dem Wahrgenommenen als Sinn anhaftet, ist der sinnkonstituierenden Instanz zugewiesen. Die jeweilige be-wußt gemachte Sichtweise bestimmt alle weitergehenden Einsichten. „Ästhetisches Denken geht solcherart von einzelnen Beobachtungen oder Wahrnehmungen aus. Diese sind dann als Nukleus imaginativer Prozesse wirksam und weiten sich zu ei-nem Grundbild, das Einsicht verspricht.“2 Heinz von Foerster hat diesen rekursiven Prozeß von Wahrnehmung und Sinnkonstitution einmal präzise einem Buch als Ti-tel vorangestellt, der da lautet: „Sicht und Einsicht“.3 Die Vernunft ist dabei nicht mehr der alleinige Ort der Wahrheit, die nun gleichermaßen im Sinnlichen vermu-tet, und das heißt: subjektiviert wird. Es wird hier also einer Ästhetik des wahr- 1 Um es an einem Beispiel festzumachen: Im Verlaufe dieser Arbeit ist auf Ligeti ver-wiesen worden, der Störgeräusche während einer Musikübertragung als zu einem Mu-sikwerk zugehörig befand. Ligeti selbst war es gegeben, Störung in eine sinnhafte In-formation zu wandeln, wo ein anderer vielleicht jene als für den Musikgenuß unnöti-ges Hintergrundrauschen identifiziert hätte. Mit anderen Worten: Es ist einer gedankli-chen Selektionsleistung Ligetis zu verdanken, wie sich das Rauschangebot in musika-lische Information und Hintergrundrauschen teilt. Damit ist gleichzeitig ausgedrückt, daß das Rauschangebot ein wesentliches Maß mehr an Information beinhaltet, als durch die Selektion aktualisiert wurde. Denn unter Information firmiert ja dann das, „was gewisse Alternativen ausschließt“ (Bateson, Gregory: Ökologie des Geistes. Ffm 41992, S. 488) „Von dieser Unendlichkeit selektieren wir eine sehr begrenzte Anzahl, die zur Information werden. Was wir tatsächlich mit Information meinen - die elemen-tare Informationseinheit -, ist ein Unterschied, der einen Unterschied ausmacht“ (ebd., S. 582). Wenn also Ligeti Übertragungsstörungen als künstlerische Qualität entdeckt hat, so war dies das Ergebnis seiner eigenen reflexionsgeleiteten Wahrnehmung, indem vor dem Hintergrund einer selbstgewählten - wiewohl unbewußt bleibenden - Differenz jene Qualität als solche erst wahrnehmbar wurde und damit bedeutet war als Selektion vor dem Horizont hochkontingenter Möglichkeiten. Das für kunstvoll Erachtete stellte sich in der Nachbetrachtung als ein Spiel mit operationsleitenden Differenzen dar, die auch ganz anders hätten ausfallen können. So wie das für kunstvoll Befundene abhängig war von jener Anfangsdifferenz, so ist auch eine jede Wissenschaftsformel von einem an den Anfang gesetzten Unterschied abhängig und entsprechend kontingent. 2 Welsch, Wolfgang: Zur Aktualität ästhetischen Denkens. In: Ders.: Ästhetisches Den-ken. Stuttgart 31993, S. 52 3 von Foerster, Heinz von: Sicht und Einsicht. Braunschweig/Wiesbaden 1985