DIE ÄSTHETISIERUNG DER (UNTERRICHTS-)WELT 335 Kultur des blinden Flecks. [...]. Reflektierte Ästhetik mahnt immer, sich des Dop-pelverhältnisses von Beachtung und Ausschluß bewußt zu sein. [...] Eine wirklich ästhetisierte Kultur wäre sensibel für Differenzen und Ausschlüsse“.1 Es geht also um eine Sensibilisierung der Wahrnehmung und daraus abgeleitet, nicht um Ein-heiten, sondern um Andersheiten, um in dem Widerstreit der Andersheiten zur Selbstkonstituierung anzusetzen. Nicht die Auffüllung mit einander immer ähnli-cher werdenden - schönen - Dingen ist als Ziel anzugeben, sondern das Gestalten von Dingen ist zu leisten, an denen der Blick irritiert verweilt, weil sie die Erwar-tung täuschen und die Auseinandersetzung anregen. So erfährt das Nicht-Beachtete seine Beachtung und übt so Kritik an seiner vormaligen Nicht-Beachtung. Das Wahrnehmen wahrzunehmen: Darauf kommt es also an. Und daran muß sich ein Bildungssystem orientieren. Eine ästhetische Erziehung der Posthistoire stellt die Wahrnehmung ins Zentrum aller Erziehungsbemühungen, und Erkennt-nisvermittlung wird immer als Akt einer Wahrnehmungsleistung betrachtet, wel-che immer einem bewußt zu machenden Reflexionsurteil unterlegen ist. Ein wahr-nehmendes Denken prozediert immer selbst als ästhetisches. „Ästhetisches muß, damit von ‘ästhetischem Denken’ gesprochen werden kann, nicht bloß Gegenstand der Reflexion sein, sondern den Kern des Denkens selbst betreffen.“2 Zugleich ver-sucht eine ästhetische Erziehung nicht die unterschiedlichen Vermögen zu einer Einheit zu verschmelzen. Sie beläßt sie im Widerstreit, und gerade darin liegt ihr unerschöpfliches Potential. Nicht Beruhigung ist ihr Ziel, sondern ständige Beun-ruhigung. Gedanken an universalistische Konzepte sind einer so verstandenen Äs-thetik, welche erziehend wirken will, absolut fremd. Daß ein Bildungssystem, das sich dem Gedanken der aisthesis verpflichtet fühlt, Abschied nimmt von objekti-ven Kategorien und explizit die Subjektabhängigkeit aller Erkenntnisprozesse ak-zeptiert und in den Vordergrund stellt, dürfte offensichtlich geworden sein. Weniger offensichtlich dürfte bisher noch der notwendige Bezug auf technische Medien geworden sein, den eine ästhetische Erziehung zu leisten hat. Die Wen-dung zum Technischen hat ihren Grund in den vorangegangenen Ausführungen, in denen bedeutet wurde, daß die Umwelt immer weniger allein durch eigene Sinnes-arbeit wahrgenommen werden kann, sondern technische Medien für die Gestaltung derselben maßgeblich verantwortlich sind. Eine ästhetische Erziehung, welche die Wahrnehmung ins Zentrum rückt, ist also im wesentlichen eine, die die Auseinan-dersetzung mit wahrnehmungsleistenden technischen Medien sucht. „Als Theorie der Wahrnehmung wird Ästhetik zur neuen Leitwissenschaft. Nun hat die Moderne die Funktionen der Wahrnehmung fortschreitend technisch gestaltet und vergegen-ständlicht. Gestelle und Apparate dringen ins Wirkliche ein“, schreiben so Norbert Bolz und Wilhelm van Reijen und machen dabei auf die fortschreitende Wirklich- 1 Welsch, Wolfgang: Das Ästhetische - eine Schlüsselkategorie unserer Zeit? In: Ders. (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen, a.a.O., S. 46 2 Welsch, Wolfgang: Zur Aktualität ästhetischen Denkens. In: Ders: Ästhetisches Den-ken, a.a.O., S. 46