VON DER ZWEITEN NATUR 345 In diesem Aktivationsprozeß wird deutlich werden, daß zwischen „Gegebenem und Gemachtem“1 nicht zu unterscheiden und damit auch die Unterscheidung künstlich/natürlich aufzugeben ist. Konkret heißt das dann: Es ist nachzufragen, was es ist, daß etwas natürlich scheint und etwas anderes nicht. Für die Musik be-deutet das weiter, Klangphänomene und -erzeugung so zu hierarchisieren, daß die in den gewählten Begriffen von natürlich und künstlich sich spiegelnde Gegensätz-lichkeit, die den Erscheinungen selbst nicht gegeben ist, aufgehoben wird. Wenn dieses geleistet ist, so sind auch Negativattributierungen an neue Technologie, die allein aus dem Technischen abgeleitet sind, ihrer Existenzgrundlage enthoben. „Mit der zunehmenden Entfremdung des musizierenden Menschen vom Klang geht eine zunehmende Brutalisierung Hand in Hand. Der Keyboard-Spieler, der mit dem Synthesizer und Emulator künstliche Klänge durch den digitalen Hall-raum sausen läßt, entspricht dem emotional verkümmerten Krieger, der auf Knopf-druck die Bombe losschickt.“2 Es ergeben sich also - wie hier geschehen - mitunter Klassifizierungen, die aufgrund ihrer argumentativen Schlichtheit zwar keines wei-teren Kommentars bedürfen, doch zugleich spiegelt sich in dem gegebenen Bei-spiel sehr anschaulich ein Verständnis von Musik, daß allein dieser aufzugebenden Kategorisierung geschuldet ist. Asmus Hintz schreibt denn auch, auf solche Äuße-rungen bezugnehmend: „Man spricht von Geräten statt von Musikinstrumenten. Die synthetische Klangerzeugung wird als unnatürlich bezeichnet und somit abge-lehnt.“ 3 Der Musikunterricht hat sich folglich von jener Kategorisierung, die nach natür-lich und künstlich differenziert, freizumachen. Empfehlungen von schreibenden Musiklehrern, die zum Beispiel das Musikinstrument Sampler zur Unterscheidung zwischen natürlichen und digitalen Instrumenten heranziehen wollen und das Mo-ment des Statischen, das gesampelten Klängen (noch) anhaftet, als das dem Digita-len wesentliche Charakteristikum SchülerInnen vermitteln wollen, ist daher entge-genzutreten. 4 Wie undifferenziert solches Argumentieren verfährt, ist daran zu er-kennen, wenn der Künstlichkeit mechanischer Klangerzeugung gedacht ist (vgl. Abschnitt Projektionswirklichkeiten). Zu verweisen wäre dagegen, wenn Musikunterricht beispielsweise als Instru-mentenkunde statthat, nicht allein auf die Bauteile von Instrumenten und die phy-sikalischen Voraussetzungen, welche den Ton bedingen, sondern gleichwohl auf jenen Zusammenhang zwischen Mensch und Technik, auf ein erweitertes Sensori-um, was mit der Technik dem Menschen gegeben ist und ihn mit dieser zu einer Einheit verbindet, ihn eine symbiotisch zu nennende Beziehung mit dem Instru- 1 Flusser, Vilém: Paradigmenwechsel. In: Steffens, Andreas (Hg.) unter Mitwirkung von Christine Pries und Wilhelm Schmid: Nach der Postmoderne, a.a.O., S. 39 2 Johannes Fritsch vom Institut für Neue Musik und Medienerziehung in Darmstadt, zi-tiert nach: Hintz, Asmus: Das Keyboard als Gruppeninstrument im Musikunterricht. In: Enders, Bernd (Hg.) unter Mitarbeit von Stefan Hanheide: Neue Musiktechnolo-gien, a.a.O., S. 347 3 Ebd., S. 347 4 Vgl. Kocka, Claus-Jürgen: Computer - ein neues Arbeitsmittel? A.a.O., S. 88f.