VON DER IN PRAXIS GEWANDTEN 352 MEDIENTHEORIE zont inaktueller Möglichkeiten verstanden wird und jene inaktuellen Möglichkei-ten oder Alternativen in dem ein oder anderen Fall nicht von vornherein ausge-grenzt, sondern mitbedacht sein wollen. Und für die jeweils aktivierte Möglichkeit (=die in einem Musikstück erkannte Struktur) bleibt der Analysetreibende verant-wortlich. Die Erkenntnis, Fuge zu sein, hat ihren Grund also nicht in der Musik, sondern bleibt dem Hörer der Musik geschuldet, der das Prinzip Fuge als eine Al-ternative im Vorgefundenen aktualisiert und dieses Formprinzip auf seine Funkti-onstüchtigkeit überprüft. Folglich bleiben Bedeutungshorizonte dabei in unter-schiedlichste Richtungen weiterhin geöffnet, denn wo der Grund nicht im Gegen-stand des Interesses liegt, sondern bei dem, der sich mit Interesse zuwendet, kön-nen so viele Alternativen aktualisiert werden, wie Erkenntnistreibende Interesse zeigen und verantwortlich zeichnen. Diskussionen um musikalische Strukturen wollen danach mit den Bestimmungskategorien des „Wahrscheinlichen“ und „Un-wahrscheinlichen“ geführt sein, denn das differenzierte Zerlegen einer Musik be-weist nicht die „Richtigkeit“ von Gedankengängen, sondern schlicht die im Ideal-falle intelligente Auseinandersetzung mit dem Gegenstand und die Möglichkeit ei-ner vernünftigen „passenden“ Erklärung. Plausibilität fragt - wen wundert’s - nach der Stimmigkeit der Argumentation, aber nicht nach „richtig“ oder „falsch“. Selbst schriftlich niedergelegte Ausführungen von Komponisten lassen kaum auf die „Richtigkeit“ bestimmter Aussagen von SchülerInnen rekurrieren, denn wie Umberto Eco anhand der Rezeption seiner Romane „Der Name der Rose“ und „Das Foucault’sche Pendel“ gezeigt hat, beginnt ein Text - und für die Musik gilt nichts anderes - mit der Überantwortung an ein Publikum ein von der formulieren-den Instanz unabhängiges „Eigenleben“ zu führen. „Das Geschriebene hat sich von mir abgelöst und führt ein Eigenleben.“1 So mögen Deutungsversuche von dritter Seite aufgestellt sein, welche die schreibende Instanz als „überzogene Interpretati-on“ von sich weist2, denen Rezipienten aber - unbenommen von derartigen Ab-grenzungen - infolge einer in sich stimmigen Argumentationslinie rückhaltlos fol-gen mögen. Auch mögen - wie Eco selbst dargelegt hat - bestimmte Beziehungen aufgestellt sein, welche beim Schreiben des Textes eine Rolle gespielt haben, von der schreibenden Instanz beim Schreiben aber gar nicht, sondern erst beim Rezi-pieren der die eigenen Texte betreffenden Sekundärliteratur erstaunt als denkbare zur Kenntnis genommen werden.3 Text oder Musik werden an einen bestimmten Kontext gebunden, in dem sie ih-re Plausibilität zu beweisen haben. Daß ein solches Unterrichten weitaus schwieri-ger zu gestalten ist, als dem schlichten binären Schema des „richtig“ und „falsch“ zu folgen, steht ganz außer Zweifel. Unmöglich aber ist es nicht, da gängige Unter-richtsmodelle nur konsequenter angewendet sein wollen, und schon ist das Prinzip der „Viabilität“ als unterrichtsbegleitendes Element in den Schulalltag eingebun- 1 Eco, Umberto: Zwischen Autor und Text. In: Ders.: Zwischen Autor und Text. Mün-chen/ Wien 1994, S. 91 2 Vgl. Eco, Umberto: Überzogene Interpretation, S. 52-75 Und: Widerspruch, S. 150-63. In: Ebd. 3 Vgl. Ebd., S. 75-99