VON DER IN PRAXIS GEWANDTEN 360 MEDIENTHEORIE Hieß es - zur Erinnerung - bei Wittgenstein noch, daß es, um einen Sachverhalt zu verstehen, notwendig sei, sich ein Bild davon zu machen, so schreibt sich dies un-ter veränderten Medienbedingungen wie folgt: „Seit Computer unseren Zugang zur Welt steuern, heißt eine Sache verstehen: sie mit errechneten Bildern simulieren können.“1 Verständnis ist dabei die Folge nicht allein eines rationalen Zugangs, sondern, über jene Verstehen erst ermöglichenden Bildwerdungen, zugleich die Folge eines ganzheitlichen, holistischen Zugangs. Diese bisherige Trennung zweier unterschiedlicher Denkwelten wäre aufgelöst, und der Weg für ein umfassendes Verstehen aufgezeigt. Das Verständnis einer Sache ist somit gebunden an das Schreiben Bilder errech-nender Algorithmen. Aus einer bildgewordenen Anschauung ist dann Verstehen zu entwickeln, mit dem dann zurückgekehrt wird zum Vorgang des Schreibens neuer Algorithmen, um ein zukünftig besseres Verstehen zu ermöglichen. Mit anderen Worten: Zum Verstehen der Welt (oder etwas bescheidener: musikalischer Prozes-se) ist eine unaufhörliche Kritik der Bildwelten erforderlich, denn der Algorithmus war noch nicht zur Zufriedenheit ausformuliert. Man könnte diesen Prozeß auch „Debugging“ der Programme nennen. Sich auf David Perkins und sein Paradox der Kreativität beziehend, schreibt so Norbert Bolz: „Menschen sind viel stärker in der Kritik als im schöpferischen Tun.“2 Es ist ein kreativer Prozeß der Schreibens, der mit dem Debugging statthat, denn man kann nie genau wissen, was man erwarten darf. Manches Unvorhergesehenes wird so Bild (und nicht zu vergessen: Ton), oh-ne daß jene darin aufscheinende neue Erkenntnis im Algorithmus zuvor vermutet worden wäre. Man schreibt folglich Programme, läßt Computer damit rechnen und entscheidet im folgenden durch Anschauung wie Anhörung darüber, inwieweit das Entworfene der weiteren Veränderung bedarf. (An dieser Stelle sei auch explizit noch einmal an Programme wie KANDINSKY MUSIC PAINTER erinnert, die Bild und Ton verklammern. Auch wenn ein Programm-Debugging verwehrt bleibt, sind hier doch Bildwerdungen, die schon ganz konkrete Anschauungen ermöglichen, gege-ben. Würde hier die Idee des offenen Systems verfolgt, wäre Kritik an Anschauun-gen umfassend zu leisten). Durch die Fähigkeit zum kreativen Kritisieren bleiben das Medium und die Pro-gramme bewußt, und die Verantwortung für das Verfügte ist noch einmal heraus-gestellt, denn das je Gestaltete ist ja nicht das, als was es erscheint, sondern ist, zu-rückgeführt auf seine Existenzbedingung, eine endliche Ziffernfolge, bestehend aus ‘0’ und ‘1’, die nach bestimmten Vorstellungen sortiert sind. In einem Medi-um, wo alles nur noch 1’ und ‘0’ bedeutet, haben Fragen nach Sinn und Bedeutung keine Relevanz mehr. Bedeutung wird dann nicht mehr zu ergründen versucht, sondern gleich zugewiesen, bleibt dabei aber jederzeit revidierbar. Mit diesem vermittelten Bewußtsein läßt es sich dann auch wieder den entgegenstehenden Dingen in der Welt zuwenden und nach deren vermeintlicher Bedeutung fragen, womit auch hier die Unverzichtbarkeit einer deutenden Instanz SchülerInnen be-wußt zu machen und die Notwendigkeit zum eigenverantwortlichen Sein themati- 1 Bolz, Norbert: Das kontrollierte Chaos, a.a.O., S. 261 2 Ebd., S. 274