VON DER IN PRAXIS GEWANDTEN 368 MEDIENTHEORIE nen Entscheidungen nicht vollkommen überblicken läßt. Denn die Summe der De-tails sagt nichts über das Ganze aus, da deren Ineinandergreifen zu einem emergen-ten, nicht im voraus erschließbaren Phänomen führen kann. Als Beispiel - anhand dessen nicht bewältigbare Komplexität im Unterricht so-wie das Emergenzphänomen veranschaulicht werden kann - sei nur die serielle Musik in den 50er Jahren angeführt mit ihrem Versuch, alle für eine Komposition relevanten Parameter im Vorfeld zu bestimmen. Das Ergebnis eines solchen Kom-ponierens war, daß die letztendliche Komposition für den Komponisten in keiner Weise voraussehbar war, wenngleich der letzte Takt wie Ton nach Vollendung der Musik rational aus dem zugrundegelegten Material eindeutig ableitbar war. Umge-kehrt war aber der Gesamtverlauf nicht im Vorfeld planbar. Je determinierter das Ausgangsmaterial, um so unbestimmter die Musik. Das heißt, die erklingende Mu-sik kann als emergentes Phänomen betrachtet werden, da - selbst wenn man um die Existenzbedingungen in allen Einzelheiten weiß (und die Komponisten wußten dies) - das erklingende Phänomen nicht vorgestellt werden konnte. Emergenz ist aber weiterhin dadurch ausgezeichnet, daß von der Ebene höherer Ordnung aus, die durch das Zusammenführen von Einzelparametern entsteht, ihre Existenzbe-dingungen eindeutig zu lokalisieren sind. So auch bei der seriellen Musik. Hat man erst einmal das Gesamtganze, können fraglos die eine Rolle spielenden musikali-schen Parameter aus dem Gesamtklang bedeutet werden. Die angesprochene Problematik führte schließlich zur Abkehr vom strengen se-riellen Gedanken, so daß das Detail nicht mehr verabsolutiert wurde, um den Ver-lauf im groben mitbedenken zu können. Die die strenge serielle Technik begleiten-de „Kontrolle des Unvorstellbaren“1 führte dazu, daß „Ungenauigkeiten im voraus einkalkuliert“2 und „Felder für freie, spontane Entscheidungen“3 zugelassen wur-den. Carl Dahlhaus hat diesen Übergang zu einem freieren Umgang mit dem Seri-ellen einmal beschrieben mit den Worten: „Aus dem Dilemma der seriellen Musik, aus der Unmöglichkeit, zugleich die Form des Ganzen und sämtliche Details durch eine Reihe zu determinieren, resultierte also die Chance, nicht aber die Notwen-digkeit eines Übergangs zur Aleatorik, zur partiellen Improvisation“.4 Dieser Be-zug zur Aleatorik ist zugleich auch darin geleistet, daß mit dem Versuch, alle mu-sikalischen Parameter zu erfassen, „eine verwirrende Anhäufung sich durchkreu-zender Regelsysteme und Automatismen“5 einherging, so daß das Endergebnis nicht nur nicht mehr voraussagbar war, sondern darüber hinaus dieses einer aleato-rischen Musik nicht unähnlich war und mit ihr verwechselt werden konnte. Streng seriell komponierte Musik nimmt sich weitgehend zufällig aus, oder anders ausge-drückt, die strengste Ordnung führt unausweichlich - zum streng determinierten, 1 Adorno, Theodor W.: Musik und Tradition. In. Musica 1/1961, S. 3 2 Dibelius, Ulrich: Moderne Musik I. München 41988, S. 347 3 Karl-Heinz Stockhausen, zitiert nach: Rohwer, Jens: Neueste Musik. Stuttgart 1964, S. 33 4 Dahlhaus, Carl: Komposition und Improvisation. In: ders.: Schönberg und andere, a.a.O., S. 375 5 Dibelius, Ulrich: Moderne Musik I, a.a.O., S. 347