VON DER PROGRAMMAUTONOMIE ZUM AUTONOMEN HANDELN 369 nicht mehr durchschaubaren Chaos. Pierre Boulez hat für sich daraus die Konsequenz abgeleitet: „Meine Ordnung ist immer eine serielle Ordnung, doch habe ich jetzt dieses serielle Prinzip um vie-les erweitert. Die Prinzipien einer Komposition, die intellektuellen wie die der Ge-staltung, müssen immer deutlich erkennbar sein“.1 Boulez spricht weiter von einer „Balance“ zwischen „Freiheit und Ordnung“ und der „Balance“ zwischen „Tech-nik und Ausdruck“, die er erfüllt wissen will.2 Undurchschaubare Komplexität führt zu nicht deutbaren emergenten Phänome-nen und zum Chaos.3 Begreift man dann das Prinzip der seriellen Musik als Meta-pher für Gesellschaft, so tritt die Unmöglichkeit planbarer Entwicklung zu Tage, gerade auch dann, wenn bedacht wird, daß in der seriellen Musik ja die das Ge-samtganze bestimmenden Details vollständig vorliegen, also umfassendes Wissen gegeben ist, eine für das System Gesellschaft undenkbare Voraussetzung. Die Notwendigkeit des „partiellen Improvisierens“ ist im System Gesellschaft für ihr Funktionieren unverzichtbar. Freies Improvisieren heißt dann aber auch, nicht im voraus schon explizit zu wissen, was improvisiert wird; benötigt wird spontanes Reagieren auf nicht vorhersehbare Zustände, ein „Balancieren“ zwi-schen dem eingeschränkten eigenen Wissen und dem ausgebreiteten, nicht zur Gänze erschließbaren Feld von überkommenem Wissen, aus dem heraus Entschei-dungen zu treffen sind. Es gilt Urteilen zu lehren, das der Meinung vertraut, was Jürgen Mittelstraß von dem „vertrauten Umgang mit dem Unbekannten“ sprechen läßt, wobei er auf die Notwendigkeit von „Urteilskraft“ abhebt, die vom einzelnen abverlangt ist und mit der der Schritt vom „Wissen zum Können“ getan ist. Diese wiederum ist nach Mittelstraß nicht zu lehren, sondern „sie will geübt sein. Ur-teilskraft stellt sich ein, indem man sie gebraucht“.4 Und Schule ist der Ort, wo ak-tiv damit umzugehen gelernt werden kann, indem zum Urteilen und Entscheiden über den manipulativen Umgang mit allem Vermittelten aufgefordert wird, das ei-gene Tun als aktiv am Produktionsprozeß Beteiligter artikuliert und reflektiert wird und die Notwendigkeit zur Beteiligung dazu durch das Aufzeigen des schnellen, gesellschaftlichen Wandels herausgestellt wird. „Urteilskraft, [...], ist die Zukunft des Denkens und eines wissens- und informationsgestützten Könnens.“5 Es ließe sich demnach sagen: Das einzig Stabile und damit Verläßliche im heutigen System Gesellschaft ist, daß alles im Wandel ist, der den einzelnen unaufhörlich zum Mit- 1 Boulez, Pierre. In: Stürzbecher, Ursula: Werkstattgespräche mit Komponisten, a.a.O., S. 50 2 Vgl. ebd., S. 49f. 3 Wie zu sehen ist, braucht es nicht immer den Einsatz von moderner Technologie, um den Gedanken einer gesellschaftlich nicht beherrschbaren Komplexität darzustellen. Die schlichte Aufgabe, mit Hilfe selbstbestimmter Parameter, eine Komposition zu entwerfen und dabei im Vorfeld eine Vorstellung von dem klingenden Ergebnis zu formulieren, tut ähnliche, wenn nicht sogar bessere Dienste. 4 Mittelstraß, Jürgen: Computer und die Zukunft des Denkens. In: Information Philoso-phie, März 1991, Nr. 1, S. 16 5 Ebd., S. 16