- 86 -Sydow, Kurt: Musikpädagogische Beiträge aus drei Jahrzehnten 
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Orff hat die Musik in dem textlich verkürzten Grimmschen Märchen anders angewandt. Er benutzt keine Leitmotive, höchstens Leitklänge (Klein-Flöhchen: größeres Triangel, Klein-Läuschen: kleines Triangel). Die klanglichen Mittel sind auch nicht in erster Linie melodramatisch eingesetzt, obwohl das dramatische Ereignis, wenn Klein-Läuschen in den Kochtopf fällt, klanglich gesteigert wird. Das rhythmische Getön gewinnt besonders da seine eigene Bedeutung, wo die Phantasie bei der gesprochenen Erzählung nicht Zeit gewinnt, um genügend ergänzen zu können. Die Erzählung kann bestimrnte Vorgänge aussagen oder beschreiben, die das Bewußtsein des Hörers registriert. Aber sie kann viele Vorgänge oft selbst nicht erlebbar machen. Wenn also Klein-Flöhchen wandernd zum Tisch, zur Mulde, zum Baum und zur alten Frau kommt, erfährt man durch den Rhythmus der Klangwerkzeuge den Vorgang des Weiterwanderns. Zeit und Raum werden erlebbar. Die Musik macht das in der Vorstellung Geweckte sinnenhaft erfahrbar. Auch die Momente der Verwandlung klingen (der Tisch enttischt sich, die Tür entangelt sich, der Baum entwurzelt sich ... dabei jeweils ein Beckenschlag). Der Vorgang der Verwandlung - ein Gegenstand wird zu einem lebendigen Wesen-: dieser Übergang aus einer Sphäre in die andere ist von Klang begleitet. Bei Orff weiten die klanglichen Mittel Sprache und Inhalt in einen Raum hinein, der nun, als ein erweiterter Umkreis, neue Erlebnismöglichkeiten schafft.

Die Suche nach Geschichten, die akustische Durchdringung zulassen, erwies sich nicht als mühselig. Als Reservoir benutzten wir die Grimmschen Märchen, "Die schönsten Gute-Nacht-Geschichten", hrsg. von Jella Lepmann und Hansjörg Schmitthenner 2, "Merkwürdige Gespenstergeschichten" von Jeanjour 3 und "Der Affenspiegel", Fabeln von Iwan Krylow 4. Bei den sogenannten Modernen gelang die Fahndung nach geeigneten Erzählungen nicht. Nur die volkstümlichen Erzählungen - wie z. B. in den Gute-Nacht-Geschichten - schließen immer auch so viel sinnenhafte Momente ein, daß sich eine

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West-Berlin 1960.


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