dass seine Dokumentarfilme keine Untersuchungen
von unterdrückenden politischen Institutionen sein sollten. Vielmehr wollte er
aus einem humanistischen Blickwinkel individuelle Portraits von Menschen
drehen.
In der Tat gibt es einiges, was diese Behauptung rechtfertigt. Während Vom
Standpunkt eines Nachtwächters die Darstellung von dessen konservativer Haltung
gegenüber Verbrechen, Bestrafung und Autorität klare soziale, politische und ethische
Bedeutung trägt, ist der Film auf der anderen Seite eine überraschend sympathische
Charakter-Studie einer eher traurigen und unausgefüllten Person. Ähnlich verhält es sich
mit dem Film Talking heads, in dem 79 Polen gefragt werden, wann sie geboren wurden,
was sie tun und was sie am liebsten mögen. Einerseits bietet der Film eine Einsicht in die
Gesellschaft des zeitgemäßen Polens, andererseits, indem er in schneller linearer Art und
Weise von der jüngsten bis zur ältesten Person verläuft, einen universell zutreffenden
Einblick in die emotionalen, physischen und psychologischen Aspekte des Alterns. Es
ist offensichtlich, dass sich Kie lowskis Interesse an der Politik immer aus
seiner Faszination für die Auswirkungen dieser auf das Individuum herleiten
lässt.
1976/77, als sich der Konflikt zwischen Staat und Volk immer mehr zuspitzte,
entstand eine neue Bewegung unter den Filmemachern, das ›Kino der moralischen
Unruhe‹, in dessen Zentrum Wajda, Zanussi, Piwowarski, Holland und auch
Kie lowski standen. Ziel der Bewegung war es, Missstände in der Gesellschaft
aufzuzeigen. Ein besonderer Schwerpunkt lag auf dem Verfall der moralischen
Werte und der Ethik. »Es wurde aufgezeigt, wie mit der Manipulation der
Massen durch staatliche Ideologie die Moral, die Ethik der Menschen untergraben
wurde.«14
Von einem merkwürdigen Paradox berichtet der Filmkritiker und Drehbuchautor T.
Toeplitz:
»Alle Filme die in den 60’er und 70’er Jahren im Rahmen der ›polnischen
Schule‹ oder des sogenannten ›Kinos der moralischen Unruhe‹ entstanden,
entstanden ja mit staatlichen Mitteln, die von den politischen Organen
kontrolliert wurden. Und hier fand die ganze Zeit über ein merkwürdiges
Spiel statt: Heute präsentiert man diese Filme als diejenigen, die das System
in Frage stellten und auch oppositionelle Autoritäten aufbauten – etwa die
von Wajda oder Zanussi. Es stimmt, nur zur gleichen Zeit wurden diese Filme
nicht etwa von einem privaten Produzenten oder irgendwelchen Untergrundkräften
finanziert, akzeptiert und realisiert, sondern von dem Staat, gegen den sie
gedreht wurden. Dieses Paradox birgt die ganze Wahrheit über die polnische
Kinematographie jener Zeit; über all das, was damals geschah. Gewissermaßen
pirschten sich beide Seiten aneinander an. Dem Staat war bewusst, dass er
Werke produzierte, die ihm gegenüber kritisch waren. Doch er sagte: ›Gut,
aber nur bis zu einer gewissen Grenze‹, oder ›Das muss irgendwie verpackt
werden, das muss irgendwie aus der Sicht der staatlichen Politik begründet
werden.‹ Die Regisseure wiederum wussten: ›Gut, ich will sie ein bisschen
ärgern, aber ich weiß, dass ich das nur bis zu einer gewissen Grenze tun darf,
damit ich das Geld für die Produktion dieses Films bekomme.‹ Eigentlich
spielte man die ganze Zeit über solch ein Spiel, bei dem sich beide Seiten
einer gewissen Undeutlichkeit und im Grunde eines gewissen Einvernehmens
bewusst waren.«15
15
Entnommen aus der Dokumentation Die Macht der Symbole – Polnisches Kino zwischen Kunst
und Politik (Regie: Heike Wilke). Vgl. S. 280
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