epOs-Verlag

 
 

Hanheide, Stefan

Mahlers Visionen vom Untergang

Interpretationen der Sechsten Symphonie

 
epOs-Music, 410 Seiten, Zahlreiche Tabellen, Abbildungen, umfangreiches Literaturverzeichnis, Personenregister
 
Osnabrück 2004
ISBN 978-3-923486-60-1 (Buch)
ISBN 978-3-923486-61-8 (CD-ROM)

Printausgabe
22,90 €

CD-ROM
16,50 €


 
Umfangreiche Rezension in:
Die Musikforschung 2009, Heft 3, S. 298f. von Federico Celestini:
"...wertvolle Aspekte, ... überzeugende Ergebnisse, .... gründlicher Umgang mit
Quellen und Literatur, ... eine nützliche Dokumentation"


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Artikel aus der Berliner Morgenpost vom 27. März 2005


Neue Studie: Gustav Mahler war ein Prophet des Ersten Weltkriegs


Schon in den zwanziger Jahren vertraten Forscher die Meinung, daß der Komponist Gustav Mahler (1860-
1911) ein Prophet des Ersten Weltkriegs gewesen sei, und eine neue Studie scheint das zu bestätigen.
"Die Musik selbst, ihre Entstehungsumstände und die Wirkungsgeschichte der Musik unterstützen diese
Sichtweise aufs deutlichste", sagte jetzt der Osnabrücker Musikwissenschaftler Stefan Hanheide, der
eine Studie über die These vorlegte. Mahler selbst habe betont, in seiner Musik spiegelten sich die
Weltgeschehnisse wider.


Vor allem in der sechsten Symphonie oder den Soldatenliedern sei die Vorahnung der Katastrophe des
Krieges zu erkennen - die Klangsphäre des Militärs sei negativ dargestellt. Der Schluß der Symphonie
zeichne zudem eine düstere Untergangsvision - im Gegensatz zur Gattungstradition. "Besonders eine
Gruppe von Mahler-Interpreten mit zumeist jüdisch-sozialistischem Hintergrund, die mit ihm in Wien in
Kontakt stand, propagierte früh diese Untergangs-Interpretation." Vor dem Krieg nahmen die Menschen
diese Ausrichtung der Musik jedoch kaum wahr, erst nach dem Krieg sei die Untergangsbotschaft erkannt
worden. Den Rezeptionswandel wies Hanheide mit empirischen Methoden anhand von mehr als 100
Aufführungskritiken der Zeit von 1906 bis 1933 nach. dpa


© Berliner Morgenpost 2005
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Codex Flores - Onlinemagazin für Musikästhetik und kognitive Musikpsychologie, Dienstag, der 14. Juni 2005

Gustav Mahler: Prophet des Untergangs?
Was mag sich Mahler gedacht haben, als er 1903/1904 seine 6. Sinfonie komponierte? Erhellende Antwort
darauf ist in Hinweisen des Meisters nicht zu finden, auch wenn er das Werk anlässlich der Wiener
Erstaufführung 1907 mit der wenig griffigen Bezeichnung «Tragische» bedacht hat.


Mahler schrieb im Jahr 1900 in einem Brief an den Rezensenten Max Kalbeck: «Es gibt, von Beethoven
angefangen keine moderne Musik, die nicht ihr inneres Programm hat. – Aber keine Musik ist etwas wert,
von der man dem Hörer zuerst berichten muß, was darin erlebt ist – respektive was er zu erleben hat.
[…] Ein Rest Mysterium bleibt immer – selbst für den Schöpfer.»


Weitere Erschwernis: Mahler hat in seiner viersätzigen a-Moll-Sinfonie keine Texte vertont (wie in den
Sinfonien 2, 3, 4, 8 und im «Lied von der Erde»), aus denen sich ideelle Inhalte gewinnen liessen.
Nicht erstaunlich, dass die Sechste die am seltensten aufgeführte Mahler-Sinfonie ist. Sogar dem
Komponisten persönlich nahestehende Dirigenten wie Bruno Walter und Otto Klemperer haben sich diesem
Werk öffentlich nie angenommen.


Der eingangs formulierten Frage hat Stefan Hanheide, Musikwissenschaftler mit Forschungsschwerpunkt
«Musik im Zeichen politischer Gewalt», Privatdozent an der Universität Osnabrück, seine
Habilitationsschrift gewidmet: «Mahlers Visionen vom Untergang. Interpretationen der Sechsten Symphonie
und der Soldatenlieder».


Eine Katastrophen-Musik?


Seit den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts lässt sich, wie Hanheide dokumentiert, eine
Interpretationskonstante verfolgen, dahingehend, dass Mahler in seiner Sechsten «als Sprecher für die
,Erniedrigten und Beleidigten‘ dieser Welt den fernen Donner der Zukunft in tönenden Symbolen zu
deuten weiß. Von hier aus gesehen prophezeit die VI. Symphonie die Schrecknisse dieses von zwei
Weltkriegen zerpflügten Jahrhunderts. […] Das philosophische Rätsel dieser Symphonie ist vom
kriegerischen Tatensturm dieses Jahrhunderts selbst gelöst worden, in dessen Erstlingsjahren
es entstand.» (Hans Ferdinand Redlich im Vorwort zur Taschenpartiturausgabe des Werks, Verlag
Eulenburg, 1968)


In seiner gründlichen und enorm materialreichen Untersuchung breitet Hanheide nicht lediglich
eine Werkanalyse und Deutung mutmasslicher Inhalte der a-Moll-Sinfonie aus. Vielmehr wendet er
die in den Sozialwissenschaften wie auch in der Psychologie gängige Methode der numerischen
Erschliessung des Materials an.


Der Autor stellt sich folgende Fragen: «Wurden weltgeschichtliche Ereignisse mit den Werken in
Verbindung gebracht? Wie groß wird die Rolle des Marsches [im Kopfsatz, Scherzo, Finale]
bemessen und wie wird er gedeutet? Welches sind die zentralen semantischen Topoi bei der
Charakterisierung der Musik? Hat die Erfahrung des Ersten Weltkrieges das Verständnis der
Musik derart verändert, daß die Nachkriegs-Hörer diese Erfahrung beim Hören miteinbeziehen?»


Grundlage Rezensionen


Antworten gewinnt Hanheide aus über 120 detailliert ausgewerteten und miteinander verglichenen
Aufführungskritiken aus Deutschland und Österreich und aus zwei Zeiträumen: einerseits aus Rezensionen
über Wiedergaben der Sechsten vor dem Ersten Weltkrieg (Mahler brachte sie 1906 in Essen zur
Uraufführung), andrerseits aus Zeitungs- und Fachzeitschriftenkritiken, die zwischen 1919 und 1933
publiziert wurden. (1933 fiel Mahler, der 1897 zum Katholizismus konvertierte Jude, im Nazireich in
Acht und Bann, nach dem Anschluss Österreichs 1938 war er auch dort verfemt. Die Mahler-Renaissance
setzte erst in den Sechzigerjahren ein.)


Hanheide begründet seine Wahl des Grundlagenmaterials folgendermassen: «Kritiken bieten den Vorteil,
daß sie in der Regel von kompetenten Hörern verfaßt worden sind. Die Gruppe der Rezensenten kann bis
zu einem gewissen Grad kompetente musikalische Öffentlichkeit repräsentieren. […] In diesen
wortsprachlichen Dokumenten liegen qualifizierte und aussagefähige Beschreibungen von Musik vor. Es
handelt sich um eine Textart, deren Funktion klar umrissen ist und deren Autoren von ihrem Berufsfeld
her über Sachkompetenz, Sprachmächtigkeit und Urteilsfähigkeit verfügen.» – Viele Feststellungen und
Taxierungen beweisen jedoch auch, wie unreflektiert deren Verfasser Kinder ihrer Zeit und eines
traditionellen ästhetischen Wertekanons waren. Also wohl glaubwürdige Repräsentanten der Vox populi.


«Die hier eingeschlagene Methode bietet den Vorteil, daß alle erreichbaren Rezeptionsdokumente als
gleichrangig angesehen werden und nicht schon subjektiv nach ihrer Bedeutung vorsortiert sind, was ein
Manko vieler Rezeptionsuntersuchungen darstellt», hält Hanheide weiter fest.


Weltkriege und Holocaust?


Mahlers Sechste beinhalte eine Untergangsvision, Kampf und Vernichtung, nehme prophetisch die
Schrecken der Weltkriege und des Holocaust voraus. Im ersten Teil seines Bandes fächert Hanheide die
Aspekte dieser von frühen Mahler-Forschern genährte Interpretationskonstante auf, die sich bis 1906
zurückverfolgen lässt. Eine andere Interpretation sieht in dieser Sinfonie den Untergang eines
Individuums. Mahlers Frau Alma, bekanntermassen keine verlässliche Quelle in Sachen Mahler,
deutete sie einschränkend als Lebenskampf ihres Mannes mit vorauskomponierten Schicksalsschlägen samt
Untergang.


Hanheide bietet (meines Wissens zum ersten Mal in dieser einlässlichen Art) eine aufs Politische
fokussierte Untersuchung von Mahlers Biografie, seiner Berührung mit Strömungen wie Nationalismus,
Sozialismus, Pazifismus, Judentum, Antisemitismus. Hanheides Fazit: Politisches Interesse im
eigentlichen Sinn lasse sich bei Mahler allenfalls akzidentiell feststellen. Ein bewußtes oder
intentionales Komponieren politischer Gehalte könne von seiner Biographie her nicht nachgewiesen
werden.


Im dritten Teil («Musik und Welt: Zu Mahlers Ästhetik») geht der Autor den Äusserungen Mahlers über
sein Komponieren und den Aussagen von Zeitgenossen nach. Bei seiner Untersuchung der Sechsten zieht
Hanheide im folgenden Teil die Wunderhorn-Soldatenlieder hinzu («Revelge», «Der Schildwache Nachtlied»,
«Zu Strassburg auf der Schanz’»). Das Sujet des Soldaten werde bei Mahler ausnahmslos in negativem
Licht gezeigt; der Soldat «ist schicksalsbeladen und ausweglos seiner Bestimmung ausgeliefert, in den
Tod zu gehen».


Die düstere Militärsphäre finde sich auch in der a-Moll-Sinfonie («In allen Sätzen mit Ausnahme des
langsamen Satzes lassen sich über weite Strecken Marschcharaktere ausmachen.»), und Mahler intensiviere
das Negativbild, vertreten durch die Idiome der Militärmusik (Marsch, Signal, Fanfare) noch durch
Verzerrung, Verdüsterung und Verfälschung.


Mit einem Gang durch die Interpretationsgeschichte der ersten Jahrhunderthälfte leitet der Verfasser
zur breit angelegten Rezeptionsgeschichte über. Das darin nach zwei Zeiträumen (1906/1907 und
1919–1933) mit erheblichem Aufwand detailliert tabellarisch geordnete und nach Kategorien ausgewertete
und prozentual aufgeschlüsselte Rezensionsmaterial ist zudem im Anhang auf über 110 Seiten abgedruckt
(Werk als Ganzes, formale Aspekte, Instrumentation, ästhetische Aspekte, die einzelnen Sätze,
Informationen zur Aufführung).


Wegweisende Untersuchung


Konsequenter in der Nutzung der schriftlichen Beurteilungen als Hans Heinrich Eggebrecht in seiner
«Geschichte der Beethoven-Rezeption» (1970/1972) geht Stefan Hanheide ans Werk: Auch er kategorisiert
die Dokumente nach Bedeutungsfeldern, allerdings wertet er sie in tabellarischen Darstellungen
numerisch aus; die quantifizierten Ergebnisse werden anschliessend verglichen und interpretiert.


Erstaunlich: Vor dem Ersten Weltkrieg wurde die Untergangsvision des Werks praktisch nicht
wahrgenommen. Erst nach den Schrecknissen des Kriegs 1914–1918, der den Zusammenbruch der alten
Ordnung in Europa zur Folge hatte, trat die pessimistische und brachiale Botschaft in den Vordergrund.
In jüngerer Zeit hat diese Interpretationskonstante an Akzeptanz verloren.


Stefan Hanheides Buch über Mahlers a-Moll-Sinfonie ist eine fundierte, psychologisch vertiefte
Auseinandersetzung mit dem Werk, seinem Schöpfer und der Rezeption von der Uraufführung bis in die
Neunzigerjahre, zudem eine für Forschungsmethoden der historischen Musikwissenschaft ungewohnte Wege
beschreitende Arbeit. Der an Dokumentationsmaterial, umsichtiger Deutung und vielseitiger Anregung
reiche Band, der inhaltlich weit über das zentrale Sujet hinausgreift, ist als wichtige Bereicherung
des Mahler-Schrifttums zu werten.


Nachbemerkung


Sind Künstler-Genies Propheten? Begabt mit übernatürlichen Kräften, mit Eingebungen höherer (oder
tieferer) Mächte, Verkünder von Ereignissen, die in der Zukunft liegen? Konkret: Hat Mahler 1903/04
den Ersten Weltkrieg vorausgesehen, den Zweiten, gar die Judenverfolgung, den Holocaust?


Die Überzeugung ist populär: Genies sind dank ihrer aussergewöhnlichen Befähigungen als Musiker,
Dichter, Maler in der Lage, in ihren höchsten Schöpfungen Zukünftiges zu antizipieren.


Jeder grosse Künstler reagiert mit seinem Schaffen – auf innere Vorstellungen, Bilder und Zwänge,
auf äussere Ereignisse, und er verfügt in hohem Mass über seismografische Sensibilität für aktuelle
Situationen und sich ankündigende Umbrüche. Indem das Genie mit Motiven und Chiffren und Verweisen
ein Werk für andere erschliessbar macht, öffnet es Zugänge, schafft es Raum für Interpretationen,
enthebt es das Werk zeitgebundener Verhaftung und dem damit einhergehenden Alterungsprozess.
Zudem: Ein Meisterwerk löst sich von seinem Urheber, ist von ihm selbst nicht in allen Verästelungen
und Bedeutungsfeldern aufzuschliessen. (Mahler: «Ein Rest Mysterium bleibt immer – selbst für den
Schöpfer».)


Jedes Meisterwerk ist in sich mehrdeutig, offenbart entsprechend der Zeit, in der es interpretiert
wird, und aufgrund der persönlichen Befindlichkeit und des Erfahrungshintergrunds, über welche die
sich damit Auseinandersetzenden verfügen, ihm immanente, jedoch erst nach neuen Ereignissen und
Aspekten sich entfaltende Inhalte und Wirkungen. Nicht weil die Urheber Weissager waren, sondern
weil den Meisterwerken allgemein verbindliche, der Zeit ihres Entstehens enthobene Kraft innewohnt.
(ws)
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Stefan Hanheide: Mahlers Visionen vom Untergang. Interpretation der Sechsten Symphonie und der
Soldatenlieder. Mit Abbildungen, Literaturverzeichnis, Personenregister. Electronic Publishing
Osnabrück, epOs Music, 2004.
408 Seiten. € 32.-. Auch als CD-ROM erhältlich, € 16,50, und online einsehbar.


www.epos.uni-osnabrueck.de
 

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