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- 8 - Dieter Hildebrandt, Piano, piano!


Sie wollten buchstäblich andere Saiten aufziehen. Vor allem der grobe Halbtonschritt war

Musikern wie Hába oder Ives oder Wyschnegradsky zuwider, und in den Klavierfabriken tüftelten sie an Vierteltoninstrumenten.

Und etwa zwanzig Jahre später, um die Mitte des Jahrhunderts, mußte sich das Klavier die Tücke der Objekte gefallen lassen, das Herumfummeln in den Saiten, das Bestücken mit Löffeln, Leisten, Gummistücken und anderen Schikanen. Der Flügel wurde bei John Cage, wie ein gepiercter Mensch, zum prepared piano; und alsbald auch dem Totalitätswahn der Epoche

unterworfen: Im Gefolge von Cage proklamierte der Pianist David Tudor das »totale Klavier«,

das rundherum bespielbare, das gleichsam schockbehandelte Piano.

Dennoch versuchte sich der einstige Held selbst immer wieder als Seelentröster, ja als eine Art Allerweltsguru. Er zog sich in die aparte Dunkelheit der Bars zurück und spielte für einsame Herzen. Seine Therapie hieß Tröstung durch Erkennen-Sie-die-Melodie, und jeder konnte ohne weiteres, sogar tanzend, die Anamnese vollziehen. Zum Beispiel der einfache Klimperkasten in

»Casablanca«, in Rick's Café. Ein schmuckloses schwarzes Upright, mitten im Raum plaziert,

und mitten in der Handlung. Ein Klavier, in dem nicht nur die Saiten gespannt sind, sondern auch alle Fäden zusammenlaufen. Als Versteck für gefälschte Pässe, als Intrigenzentrum, als Ort des Wiederfindens. Als eine Zeitmaschine, die die Zukunft mit der Vergangenheit betrügt und der Gegenwart Beiläufigkeit verordnet: A kiss is just a kiss. Eben. Kaum einmal hat das Barklavier einen größeren Moment gehabt als den, da Sam sein »As time goes by« spielt und singt und damit Ingrid Bergman und Humphrey Bogart in Kultfiguren verwandelt.

Aber das 20. Jahrhundert ist nicht zuletzt die Ära des Jazzklaviers, einer neuen Art von Instrument. Es ist das Piano in den Kellern und Clubs von New Orleans und Chicago und New York, das Klavier der blue notes und des Blues, jenes Klavier, das noch wie die alten aussah, aber ganz anders klang, holpernd und stolpernd im Rag, federnd und trampolinartig im Swing, lakonisch und trocken unter den Fingern von Duke Ellington und Count Basie, ruppig verstört in den Attacken eines Thelonious Monk, von dem auch der traurigste Satz der Epoche stammt:


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