Vertonung des Gedichts "Hiroshima" von Marie
Luise Kaschnitz
Jessica Voß
Barbara Hülse
Januar 1995
INHALTSVERZEICHNIS
I. Künstlerische
Aspekte
1. Einleitung
2. Gedichttext und -interpretation
a) Gedichttext
b) Gedichtinterpretation
3. Künstlerische Umsetzung
II.
Technische Realisation
1. Benutzte Geräte und Sounds
2. Technischer Aufbau
3. Entstehung der Produktion
III.
Literaturverzeichnis
I. KÜNSTLERISCHE
ASPEKTE
1. EINLEITUNG
Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die
Vertonung des Gedichts "Hiroshima"1) von Marie Luise
Kaschnitz. Was hat uns dazu bewogen, diesen Text auszuwählen? Bei
den Vorüberlegungen für unsere Tonbandarbeit legten wir Wert
auf eine Textvorlage, die sich auch im Hinblick auf den späteren Lehrberuf
schulpädagogisch eignen könnte. Für die Umsetzung mit Schülern
stellen wir uns den Rahmen einer Projektwoche vor, in welcher aufbauend
auf die Beschäftigung mit dem historischen Hintergrund und den immer
noch aktuellen Konsequenzen das Gedicht vertont werden soll. Die im Laufe
der Arbeit entstehende Musik soll deshalb auch nicht reiner Selbstzweck
sein, sondern vielmehr die Schüler zu einer aktiven Auseinan-dersetzung
(nicht nur textlich, sondern eben auch musikalisch) mit diesem Aspekt der
Weltgeschichte (Zweiter Weltkrieg und die daraus resultierenden Atombombenabwürfe
auf Hiroshima und Nagasaki) anregen.
Durch die Vertonung wird es den Schülern
ermöglicht, diese wichtigen Ereignisse der nahen Vergangenheit nicht
nur in Form von geschichtlichen Fakten und Daten zu erfahren, sondern durch
die persönliche Identifikation mit der künstlerischen Umsetzung
unmittelbar zu "begreifen".
2. GEDICHTTEXT UND -INTERPRETATION
a) Gedichttext
Hiroshima2)
Der den Tod auf Hiroshima warf
Ging ins Kloster, läutet dort die
Glocken.
Der den Tod auf Hiroshima warf,
Sprang vom Stuhl in die Schlinge, erwürgte
sich.
Der den Tod auf Hiroshima warf, -
Fiel in Wahnsinn, wehrt Gespenster ab
Hunderttausend, die ihn angehen nächtlich
Auferstandene aus Staub für ihn.
Nichts von alledem ist wahr.
Erst vor kurzem sah ich ihn
Im Garten seines Hauses vor der Stadt.
Die Hecken waren noch jung und die Rosenbüsche
zierlich.
Das wächst nicht so schnell, daß
sich einer verbergen könnte
Im Wald des Vergessens. Gut zu sehen
war
Das nackte Vorstadthaus, die junge Frau
Die neben ihm stand im Blumenkleid
Das kleine Mädchen an ihrer Hand
Der Knabe der auf seinem Rücken
saß
Und über seinem Kopf die Peitsche
schwang.
Sehr gut erkennbar war er selbst
Vierbeinig auf dem Grasplatz, das Gesicht
Verzerrt von Lachen, weil der Photograph
Hinter der Hecke stand, das Auge der
Welt.
b) Gedichtinterpretation
Das Gedicht unterliegt inhaltlich und formal
einer Gliederung in zwei kontrastive Strophen.
Ein Reimschema besteht nicht: Es handelt
sich also um reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen. Die
erste Strophe wird durch die dreimalig auftretende "Schuldzeile" (siehe
Zeile 1,3 u.5) geprägt. Gemeint ist hiermit der für den Bombenabwurf
auf Hiroshima verantwortliche Pilot Claude Robert Eatherly. Im Anschluß
an den Leitvers wird jeweils eine Möglich-keit der Sühne aufgezeigt:
1. Er ging ins Kloster (Vers 2)
2. Er verübte Selbstmord (Vers 4)
3. Er verfiel dem Wahnsinn (Vers 6ff.)
Dieses fast simultane Anführen der drei einander ausschließenden
Verhaltensweisen zeigt jedoch, daß keine von ihnen auf "den, der
den Tod auf Hiroshima warf" zutrifft. Im Gegenteil, der Leser/Hörer
wird mit dem einleitenden Satz zur zweiten Strophe ("Nichts von alledem
ist wahr".) erbarmungslos enttäuscht, denn der Pilot hat sich für
keine der aufgezeigten Sühnemöglichkeiten entschieden.
Die Leerzeile "Nichts von alledem ist
wahr" (Vers 9), die den Charakter eines Urteilsspruchs hat, fungiert in
"Hiroshima" als Achse, um die sich das Gedicht dreht.
In der zweiten (kontrastiven) Strophe
beschreibt Marie Luise Kaschnitz zunächst die Idylle einer jungen
Fa-milie. Schlüsselwörter sind hier die "jungen Hecken" (Vers
12), die "zierlichen Rosenbüsche" (dito) und das "Blumenkleid" (Vers
16) der Ehefrau. Dichter und Leser/Hörer nehmen über die Hecken
hin-weg einen voyeurhaften Einblick in die Unschuld und Naivität des
kleinbürgerlichen Haushalts.
Eine Flucht in die Vergessenheit jedoch
ist nicht möglich, denn "das wächst nicht so schnell, daß
sich
einer verbergen könnte im Wald des
Vergessens" (Vers 13). Die unmenschlichen, ja bestialischen Züge des
Piloten ("Vierbeinig auf dem Grasplatz. .", Vers 21) mit dem antrainierten
Fotolachen werden das "Auge der Welt" (Vers 23) niemals täuschen.
Eine dritte Strophe in Form einer Synthese
wurde von der Autorin ausgespart und bleibt somit der Phantasie des Lesers
überlassen.
Marie Luise Kaschnitz hält sich
mit ihrem Gedicht "Hiroshima" nur entfernt an den realen historischen
Hintergrund: Todespilot Eatherly wurde
als Held der Nation geehrt, erhielt eine Belohnung, wurde aller-dings später
psychisch labil und unternahm zwei Selbstmordversuche. Letztendlich wurde
er in einer psychiatrischen Anstalt für ehemalige Soldaten interniert.
3. KUNSTLERISCHE UMSETZUNG
Die formale und inhaltliche Gliederung des
Gedichts in zwei konträre Teile sollte auch musikalisch berücksich-tigt
werden.
Hauptidee war im ersten Teil, die sich
gegenseitig aus-schließenden Sühnemöglichkeiten des Piloten,
die von der Autorin bewußt konstruiert wurden, dementsprechend mit
bewußt konstruierten abstrakten künstlichen Klängen um-zusetzen.
Hierfür erschien uns die Kombination Computer-Expander-Synthesizertastatur
als besonders geeignet. Den Rahmen der ersten Strophe bildet die dreimalig
wieder-kehrende Schuldzeile "Der den Tod auf Hiroshima warf". Diese wird
leitmotivisch durch tiefe, bedrohlich wirkende Ostinatoklänge mit
variierender Rhythmik umgesetzt. Durch geschicktes Fade In/Out wird von
dem Leitmotiv zu den drei Möglichkeiten der Sühne übergeleitet,
welche different vertont wurden: Die Klosteratmosphäre wurde
durch einen pseudo-sakralen Orgelfugatoeinsatz
nachempfun-den; der Selbstmord taucht als Schreckakkord auf, der dem Rhythmus
des "Todesmotivs" nachfolgt; der Wahn-sinn manifestiert sich in übereinandergelagerten
sphäri-schen Klängen, die jeder Ordnung entsagen. Die Sprecherstimme
wurde in diesem konstruierten ersten Teil mit betont viel Hall unterlegt.
Zwischen den beiden Strophen steht die nüchterne Feststellung, daß
"nichts von alledem wahr ist". Um die Bedeutung dieses Verses, der als
Achse des Gedichts fungiert, hervor-zuheben, wurde auf eine musikalische
Unterlegung bewußt verzichtet. Der Vers steht für sich allein
im Raum.
Die Naivität des zweiten, kontrastiven
Teils wird demgegenüber mit konkreten Melodien von "natürlichen"
Instrumenten wie Panflöte und Klavier verdeutlicht.
Ein Klaviervorspiel leitet zur durchkomponierten
zweiten Strophe über, in der Taktmaß und homophones Zusammenspiel
von Klavier und Flöte einen durchgehenden Rahmen für die inhaltliche
Aneinanderreihung der Lebensumstände des Piloten bilden.
Die Tatsache, daß das Klavier und
die Flöte nicht auf akustischen Instrumenten, sondern mit Hilfe des
Computers eingespielt wurden, hat hierbei nicht interpretatorische, sondern
spieltechnische Gründe.
Eine bereits in den letzten Verszeilen
beginnende Synthese in der Elemente beider Strophen (z.B. das Leitmotiv)
miteinander in Beziehung gesetzt werden und sich vermischen, ersetzt die
von der Autorin ausgesparte dritte Strophe und animiert zur individuellen
Auslegung.
II.
TECHNISCHE REALISATION
1. BENUTZTE GERÄTE UND SOUNDS
· Computer: Atari 1040 ST
· Programm: Cubase Version 3.0
· Synthesizertastatur: Korg DW
8000
· Digitalpiano: Roland FP 8
· Mischpult: Tascam MM-1 (Keyboard-Mixer)
· Expander:
1. Roland Sound Canvas (2x)
Sounds:
Bowed Glass
SynVox
Flute
Piano 1
Pan Flute
2. Yamaha TG 33
Sounds:
Fing
Fear
SP Ice
New Age
· Mikrophon: Sennheiser (dynamisches
Mikrophon)
· Tonbandgerät: Fostex Modell
80 (u. Mischpult der Fostex)
· Hallgeräte:
1. Yamaha REV 7
Hall: Small Hall (-> Stimme)
2. Alesis Quadra Verb
Hall: King Chamber Nr.10 (-> Klavier)
3. Alesis Micro Verb III
Hall: Room Nr.2 (-> Flöte)
· Mischpult: Studer
· DAT-Recorder
3. ENTSTEHUNG DER PRODUKTION
Im Gegensatz zu Punkt 1/3 (künstlerische
Umsetzung) soll es an dieser Stelle darum gehen, den Produktionsvorgang
in technischer Hinsicht nachzuvollziehen.
Nach einigen Vorüberlegungen entschieden
wir uns für eine Umsetzung am Computer (inklusive Sequenzerprogramm)
in Ver-bindung mit Synthesizertastatur und Expander. Hinzu kam ein Mikrophon
für die Aufnahme der Sprechstimme.
Auch im Hinblick auf die Schulpraxis
erschien uns diese Lösung vorteilhafter als die Verwendung des Modulsynthesizers,
da sich an den heutigen allgemeinbildenden Schulen - wenn überhaupt
- sicherlich noch eher die oben genannte Kombination als eines der seltenen
Exemplare aus der Gat-tung "Modulsynthesizer" vorfinden läßt.
Zu Beginn unserer Arbeit machten wir
uns zunächst mit dem Studio und seinen vielfältigen Möglichkeiten
bekannt, um anschließend auf die Suche nach den Klängen, die
uns vorgeschwebt hatten, zu gehen. Dabei schlossen wir intensive Bekanntschaft
mit dem TG 33 von Yamaha, den wir im Gegensatz zum Roland-Expander vorher
noch nicht kannten. Als es dann konkret „zur Sache ging", war es für
uns vorteilhaft, einige grundlegende Kenntnisse über das Cubase-Programm
im MIDI-Kurs von Herrn Rocholl erworben zu haben, auf die man aufbauen
konnte. Natürlich passierten auch uns die obligatorischen Computerfehler
wie z.B. falsches Abspeichern, etc., von denen uns andere schon mit schreckgeweiteten
Augen erzählt hatten. Auch mußte die Cubase-Bedienungsanleitung
zeitweilig noch einmal intensiv durchgeblättert werden, um etwas kompliziertere
Arbeitsvorgänge ausführen zu können, wie beispielsweise
das Umgehen mit dem MIDI-Mixer. Oftmals ging es auch um nervige motorische
"Knibbelarbeit", beim Arbeiten mit der Toolbox etwa (Tracks verschieben,
an der richtigen Stelle cutten, ko-pieren, etc.), oder beim Ein- und Ausfaden
mit dem MIDI-Mixer.
Sämtliche Stereoeffekte, Hallanteile
und Lautstärkeverhältnisse, die die Musik des 1. Teils betreffen,
wurden also mit Hilfe des Computers festgelegt, so daß in der letzten
Abmischung vom Tonband auf DAT-Kassette lediglich auf die Lautstärkerelation
zwischen Musik und Sprechstimme zu achten war. Um den inhaltlichen Kontrast
zwischen den beiden Strophen des Gedichts musikalisch zu unterstützen,
verwandten wir im ersten Teil betont synthetisch wirkende Klänge und
griffen dagegen im zweiten Teil auf die Expanderoptionen des akustischen
Klaviers und der akustischen Panflöte zurück.
Als nach einigen Tagen der "Musikteil"
unserer Tonbandarbeit fertiggestellt war, verließen wir das uns inzwi-schen
liebgewordene Studio, um im „Kinzler-Raum" die Sprechstimme aufzunehmen.
Die Arbeit mit einem dynamischen Mikrophon war für uns zunächst
noch etwas ungewohnt, zumal plötzlich die diversen Nebengeräusche
(unkontrolliertes Schnaufen, Füßescharren, Autoblitzstarter,
Krankenwagen, Glockenläuten, etc.), die uns im Studio bei der Arbeit
am Computer wenig beeindruckt hatten, nun direkten Einfluß auf unsere
Tonbandaufnahme hatten.
Bei der Aufnahme der beiden Sprechstimmen
achteten wir besonders auf gute Textverständlichkeit, wie es sich
nach absolvierter Singen-und-Sprechen-Prüfung gehört, und auf
die Vermeidung von übersteuerten Plosivlauten (p, t, k).
Als Antwort auf die in der ersten Strophe
aufgestellten Hypothesen über die Sühnemöglichkeiten des
Todespiloten wechselten wir für die zweite Strophe die Sprecherrolle.
Während der Abmischung vom Tonband
auf die DAT-Kassette bestimmten wir den Anteil der einzelnen Hall-Komponenten,
d.h. wir griffen für die beiden Sprecherstimmen, für das Klavier
und die Flöte auf je unterschiedliche Einstellungen zurück.
III.
LITERATURVERZEICHNIS
Kaschnitz, Marie Luise. Überallnie:
Ausgewählte Gedichte 1928-65. Hamburg, 1965.
Schweikert, Uwe (Hrsg.). Marie Luise
Kaschnitz. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1984.
Fußnoten:
l) Schweikert, Uwe (Hrsg.).
Marie
Luise Kaschnitz. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1984.
2) Marie Luise Kaschnitz.
Überallnie:
Ausgewählte Gedichte 1928-65. Hamburg, 1965.