- 131 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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dem oben erwähnten, dem jeweiligen Stück fremden Regie-Standpunkt verdanken. Kern des Anspruches von Felsenstein besteht darin, dass die ganze Inszenierung dem Stück zu seiner Realität auf der Bühne verhilft. Felsensteins Auffassung verlangt somit unbedingt die Nähe der Konzeption zum Stück. Felsensteins Begriff einer Konzeption unterscheidet sich folglich von dem anfangs beschriebenen dadurch, dass er unter einer Konzeption sämtliche szenischen Bedingungen fasst, die eine Realisierung des als Partitur vorliegenden Kunstwerks benötigt. Oberstes Primat hat dabei die Partitur und die in ihr fixierte und zu dechiffrierende ›musikalische Handlung‹ und nicht

»latente Schichten, mythische Archetypen, historische Tiefenstrukturen, aktuelle Bezüge oder soziale Prämissen.«185

185
Dahlhaus, C.: Vom Musikdrama zur Literaturoper, S. 171

Den Grund dafür spricht er in seinem Traviata-Vortrag aus:

»Wie ich überhaupt, meine Damen und Herren, mehr Wert darauf lege, mit improvisierten Ausführungen darauf hinzuweisen, dass man etwas erfahren und kennenlernen muss, weil sonst diese Werke, die vielleicht nie mehr in ihrer dramatischen Qualität vom Menschen wiederholt werden können, einfach missbraucht und benutzt werden für andere Zwecke. Um dieses Verständnis werbe ich. Dass es mir nicht gelingt, das alles vollkommen zu demonstrieren, das tut mir furchtbar leid, aber manchmal ist es besser, manchmal schlechter, aber dass es so sein soll, darauf kann man gar nicht oft genug hinweisen. Verzeihen Sie, wenn ich da manchmal etwas lehrhaft werde, aber es sind nun mal wirkliche, echte, große kulturelle Werte, um die es sich handelt und mit denen manchmal im Namen der Kultur schandbar umgegangen wird.«186

186
Transskription des ›Traviata‹-Vortrags von Felsenstein, S. 27

Um die Rettung der Oper als Kunstform, um ihre Eingliederung in den Kanon der Künste geht es Felsenstein.

3.6.1.  Der Anlass zur musikalischen Äußerung

Der Anlass zum Singen ist ein zentraler Begriff in Felsensteins Arbeit.187

187
»Deshalb ist die Fähigkeit, in jedem Augenblick der Rollengestaltung den richtigen Anlaß für die erforderliche Äußerung in sich zu produzieren, der Grundstein jeder Arbeitsmethode und die einzige Sicherheit, das Memorieren zu vermeiden.« Felsenstein, Schriften, S. 120
Er erhält durch die ästhetischen Gesetze des Musiktheaters seine Bedeutung, denn er begründet aus der Handlung heraus, dass gesungen wird.

Die natürliche Ausdrucksform des Menschen sei die Sprache; weiche man davon ab, müsse das einen Grund haben. Weil Gesang keiner gewohnten Äußerung entspreche, müsse ein entsprechender, das Außergewöhnliche des Singens erklärender Grund fürs Singen vorliegen, damit Gesang zu einer glaubhaften Äußerung werden könne. Ein solcher Grund kann aus Felsensteins Sicht nur im musikalisch zu äußernden Zustand liegen. Sind die Zustände in der Art außergewöhnlich, dass sie Singen veranlassen, erscheint es auf einer sozusagen zweiten Ebene natürlich und damit glaubhaft, wenn auf der Bühne gesungen wird. Somit dient die Vergegenwärtigung des Anlasses der Überwindung tendenzieller Künstlichkeit,188

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»Die Diskrepanz zwischen menschlicher Realität und gesanglicher Unnatur verringert sich erfahrungsgemäß mit der zunehmenden Potenz der Persönlichkeit.« ebd., 119. Der Darsteller führt den Gesang aus seiner ihm innewohnenden ›Unnatur‹ heraus, indem er aus ihm eine Äußerung werden lässt. Auch gesangliche Äußerungen bleiben aber Gesang, ihnen haftet wesentlich etwas Unnatürliches an. Aufgabe von Musiktheater ist, die Unnatur einer gesanglichen Äußerung soweit zu verringern, dass sie glaubhaft wird.
die dadurch zustande kommt, dass Musiktheater aus gesungenen Äußerungen besteht.


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