- 132 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Da es bei der analytischen Suche nach dem Anlass um die Vergegenwärtigung des musikalisch zu äußernden Zustandes geht, verfolgt diese Suche zumindest auch das Ziel, die verbal-sprachlich nicht fassbaren durch Musik ausgedrückten theaterrelevanten Inhalte zugänglich – und damit spielbar und allabendlich reproduzierbar – zu machen, ohne nur die verbal vermittelbaren Anteile der Partitur betonen zu wollen, also: die im Musiktheater als musikalisch erkannte Handlung begreifbar zu machen. Die Frage nach dem ›Warum‹, die den so zentralen Begriff des ›Anlasses‹ bei Felsenstein begründet, entspringt der grundlegenden musikästhetischen Fragestellung nach dem Gehalt von Musik. Zur Darstellung, wie Felsenstein eine Stückkonzeption entwickelt, die das Ziel hat, sich musikalisch vermittelte Inhalte zu vergegenwärtigen und diese sprachlich darzustellen, lohnt es, sich mit Felsensteins Erarbeitung des Untertextes der Figuren zu beschäftigen.

3.6.2.  Die Erarbeitung des Untertextes musiktheatralischer Rollen

Den Untertext einer Figur zu finden, stellt einen wesentlichen Teil der Rollenarbeit dar. Im Laufe einer Stückanalyse stößt man auf die gegebenen Umstände des Stückes, die den tatsächlichen Verlauf des Stückes verursacht haben. Insbesondere liegen diese Ursachen in der Psychologie der handelnden Personen. Es gilt, das Innenleben der Personen zu erforschen, um so das »seelische Leben der Rolle« (K.S. Stanislavskij) zu erfassen. Der Untertext einer Rolle versprachlicht dieses seelische Leben, durch ihn sollen die in den Figuren befindlichen inneren Ursachen für die äußere Handlung des Stückes zu Tage treten. Daraus ergibt sich ebenso, dass sich im Innenleben der Figuren die äußere Handlung wiederspiegelt.189

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Vgl. dazu: Stanislawski,: Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle, Zsgest. von J.N. Semjanowskaja. Red., kommentiert u. eingel. von G.W. Kristi. Westberlin: Verlag Das Europ. Buch, 1981, S. 125ff.

Um das bloße Reproduzieren von Text zu vermeiden, sollte dem Darsteller der gesamte innere Zustand, in dem die betreffende Figur redet, klar sein, bevor er am Rollentext arbeitet. Aus diesem nachempfundenen Zustand heraus sollte er den Text als das beste Ausdrucksmittel dieses Zustandes erkennen und verwenden. Da die Zustände der Figuren die Gründe der Handlung darstellen, muss aus ihr der Untertext entwickelt werden. Felsenstein trägt Untertexte in dem Sprachgestus, der dem Zustand der Figur gerecht wird, vor. Er stellt gewissermaßen miterlebend den Zustand der Figur sprachlich dar. Dadurch ist Felsenstein in der Lage, das für das Theaterspielen notwendige Integrieren von Erleben und Reflektieren zu leisten. Bei dem Sprechen der Untertexte in seinem ›Traviata‹-Vortrag fügt er immer wieder einzelne Worte aus dem Rollentext in den Untertext ein. Das für die Arbeit im Musiktheater Besondere daran ist, dass diese Worte auf Notenwerte notiert sind, dass heißt, ihnen ist schon ein gewisser Charakter des Ausdrucks vorgegeben, weil sie rhythmisiert sind. In dem Moment, in dem er vom freien Sprechen dazu


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