- 133 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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übergeht, den betreffenden Rollentext im notierten Rhythmus zu sprechen, wird evident, inwiefern der vorher schon sprachlich dargestellte Zustand mit dem musikalischen Parameter Rhythmus übereinstimmt und im jeweiligen Rhythmus seinen treffenden Ausdruck findet.

Die gleiche Arbeitsweise lässt sich auch bezogen auf Tonhöhe und musikalische Linien nachweisen. Mit seiner außergewöhnlich modulationsfähigen Stimme evoziert er einen inneren Zustand, aus dem heraus er unmerklich dazu übergeht, den musikalischen Verlauf zu markieren. Indem er in seinen Sprachausdruck den komponierten Notentext integriert, soweit dies mit der Sprechstimme möglich ist, und seine markierende Gesangsstimme den Gestus des Gesprochenen nie verliert, erarbeitet Felsenstein den Untertext einer musikalisch handelnden Person. Dadurch, dass Felsenstein ihn um diese musikalische Dimension bereichert, kann der Untertext zum wesentlichen Hilfsmittel werden, die theatralisch-dramatischen Qualitäten der sich sprachlicher Konkretion entziehenden Musik zu verdeutlichen.

3.7.  Felsensteins konzeptionelle Grundgedanken zur ›Traviata‹

Es sollen nun die konzeptionellen Grundüberlegungen Felsensteins zur ›Traviata‹ dargestellt werden. Felsenstein fasst diese Oper als eine ›Tragödie antiken Ausmaßes‹190

190
Transskription, S. 21
auf. Damit diese Tragödie funktioniere, müsse klar sein, dass ab dem Trinklied

»bei Violetta und Alfred aus verschiedenen Motiven ein Zustand, eine Temperatur, etwas entsteht, was unberechenbar ist, was sich meiner Überlegung, meinem Willen, meiner Prüfung völlig entzieht, denn ich wache nach diesem Exzess, der sich da zwischen mir und diesem jungen Mann ergibt, erst auf, nachdem er weg ist. Wenn das nicht gelingt und in den, ich weiß nicht, wie viele Aufführungen wir hatten und ich muss gestehen, dass nicht in allen Aufführungen von ›Traviata‹ das gelungen ist, nur in wenigen, weil es ja auch sehr schwer ist, aber ich bin schon zufrieden, wenn es als Absicht verstanden wurde, ist das die Voraussetzung. Sonst ist das ganze keine Tragödie, sondern eine abgeschmackte, sentimentale dumme Geschichte einer verliebten Hure, die dann also [...] das hat keinen Sinn.«191

191
ebd., S. 21

Der ›Exzess‹, das Außer-Sich-Sein der Violetta zu Beginn ihrer Liebe ist nötig, damit Violettas Scheitern tragisch ist. Auf den ersten Blick ist weder ersichtlich, warum dies so sein müsse, noch, dass die ›Traviata‹ eine »Tragödie antiken Ausmaßes« sei.

Der Grund dafür, dass Violetta so handelt, wie sie es tut, muss erstens ein außergewöhnlich starkes Liebesgefühl sein, das sie zweitens beherrscht. Violetta muss durch ihr Gefühl zum Abschied von der Pariser Lebewelt gezwungen sein. Dieser Abschied darf nicht der Berechnung oder der Laune ›einer verliebten Hure‹ entspringen. Ihre Liebe führt Violetta in einen entgrenzten Zustand, der sie über ihre


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