- 136 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (135)Nächste Seite (137) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Der konzeptionelle Grundgedanke des Bühnenbildes wird realisiert, ohne vom Ort der Handlung – ein nobles Pariser Palais – zu abstrahieren. Ein solches Bild verlangt nicht den Chiffren entschlüsselnden Zuschauer. Das Bild geht nicht in seiner Bedeutung, ›ein Sarg zu sein‹, auf, sondern vermittelt auf einer verständlichen, sinnlichen Ebene den Festsaal Violettas. Dieser schwarze Festsaal verweist auf einen Spielort, an dem eine Tragödie ihren Ausgang nimmt. Ob das Bild vom Zuschauer entschlüsselt wird oder nicht, der bedrückenden Atmosphäre eines solchen schwarzen Raumes kann er sich kaum entziehen. Zudem leistet dieses Bühnenbild einen bedeutungsstiftenden Kontrast sowohl zur Erwartungshaltung gegenüber einem ›normalen‹ I. Akt ›La Traviata‹, als auch gegenüber dem darin zu hörenden und zu sehenden festlichen Treiben und der Liebesgeschichte. Ein in einem ›Sarg‹ erklingendes Trinklied entsprach durchaus nicht der Aufführungskonvention der ›Traviata‹. Schon mit dem Bühnenbild versinnlichen Felsenstein/Heinrich, dass der tragische, weil notwendige Tod der Violetta seinen Grund in der angesichts der Pariser Gesellschaft aussichtslosen Liebe zwischen ihr und Alfredo hat. Es soll nochmals betont werden, dass dieser Gedanke nicht zu einem abstrakten, Bedeutungen transportierenden Bühnenraum führte. Felsenstein verwahrte sich immer vor abstrakten Darstellungsweisen. Sein Kriterium bestand darin »allgemein verständlich« zu bleiben.196
196
vgl. dazu Kap. 2.1.3 der vorliegenden Arbeit: »Felsensteins Realismus«

3.8.2.  Rekonstruktion der Vorgeschichte und der daraus resultierenden Ausgangssituation

Um die Charaktere und ihre Handlungsmotive möglichst genau zu kennen, analysiert Felsenstein sorgfältig die Vorgeschichte. Ein wesentlicher Teil der Stückanalyse besteht darin, die Vorgeschichte vor dem Einsetzen der eigentlichen Handlung zu erfassen:

»Aus der Vorgeschichte ergeben sich die bis zum Beginn des Stückes erreichten Beziehungen der handelnden Personen zueinander, die Ausgangssituation.«197

197
Felsenstein, S. 141

Damit meinte Felsenstein nicht, die etwaige Vorlage des Librettos zu befragen, sondern Rückbeziehungen aus der konkreten Stückhandlung herzustellen und den Beginn genauestens zu untersuchen.198

198
vgl. ebd.
Am Beispiel seiner Analyse von Verdis ›La Traviata‹ soll nun gezeigt werden, wie diese Analyse der Musik verpflichtet ist.

Felsenstein untersuchte die Regieanweisung beim Öffnen des Vorhangs.

»Es steht hier: Eleganter Salon; reich möbliert; im Hintergrunde eine offene Tür, welche zu einem anderen Saale führt; im Vordergrund links ein Kamin, neben demselben ein Trumeau, in der Mitte des Saales eine sehr reich besetzte Tafel; Violetta sitzt auf einem Diwan und ist im Gespräch mit dem Doktor und einigen Freunden; ein Gespräch, das scheinbar nicht komponiert ist, wie Sie sehen – [Hervorhebung R. H.] einige Gäste gehen dem Baron, welcher Flora führt, entgegen.«199

199
Transskription, S. 3. Vgl. Verdi, G: ›La Traviata‹, (KA), Bärenreiter, Kassel, 1961


Erste Seite (i) Vorherige Seite (135)Nächste Seite (137) Letzte Seite (180)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 136 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch