Der konzeptionelle Grundgedanke des Bühnenbildes wird realisiert, ohne vom Ort der
Handlung – ein nobles Pariser Palais – zu abstrahieren. Ein solches Bild verlangt nicht
den Chiffren entschlüsselnden Zuschauer. Das Bild geht nicht in seiner Bedeutung, ›ein
Sarg zu sein‹, auf, sondern vermittelt auf einer verständlichen, sinnlichen Ebene den
Festsaal Violettas. Dieser schwarze Festsaal verweist auf einen Spielort, an dem eine
Tragödie ihren Ausgang nimmt. Ob das Bild vom Zuschauer entschlüsselt wird oder
nicht, der bedrückenden Atmosphäre eines solchen schwarzen Raumes kann er sich
kaum entziehen. Zudem leistet dieses Bühnenbild einen bedeutungsstiftenden
Kontrast sowohl zur Erwartungshaltung gegenüber einem ›normalen‹ I. Akt ›La
Traviata‹, als auch gegenüber dem darin zu hörenden und zu sehenden festlichen
Treiben und der Liebesgeschichte. Ein in einem ›Sarg‹ erklingendes Trinklied
entsprach durchaus nicht der Aufführungskonvention der ›Traviata‹. Schon
mit dem Bühnenbild versinnlichen Felsenstein/Heinrich, dass der tragische,
weil notwendige Tod der Violetta seinen Grund in der angesichts der Pariser
Gesellschaft aussichtslosen Liebe zwischen ihr und Alfredo hat. Es soll nochmals
betont werden, dass dieser Gedanke nicht zu einem abstrakten, Bedeutungen
transportierenden Bühnenraum führte. Felsenstein verwahrte sich immer vor abstrakten
Darstellungsweisen. Sein Kriterium bestand darin »allgemein verständlich« zu
bleiben.196
3.8.2. Rekonstruktion der Vorgeschichte und der daraus resultierenden AusgangssituationUm die Charaktere und ihre Handlungsmotive möglichst genau zu kennen, analysiert Felsenstein sorgfältig die Vorgeschichte. Ein wesentlicher Teil der Stückanalyse besteht darin, die Vorgeschichte vor dem Einsetzen der eigentlichen Handlung zu erfassen: »Aus der Vorgeschichte ergeben sich die bis zum Beginn des Stückes erreichten Beziehungen der handelnden Personen zueinander, die Ausgangssituation.«197
Damit meinte Felsenstein nicht, die etwaige Vorlage des Librettos zu befragen, sondern Rückbeziehungen aus der konkreten Stückhandlung herzustellen und den Beginn genauestens zu untersuchen.198
Felsenstein untersuchte die Regieanweisung beim Öffnen des Vorhangs. »Es steht hier: Eleganter Salon; reich möbliert; im Hintergrunde eine offene Tür, welche zu einem anderen Saale führt; im Vordergrund links ein Kamin, neben demselben ein Trumeau, in der Mitte des Saales eine sehr reich besetzte Tafel; Violetta sitzt auf einem Diwan und ist im Gespräch mit dem Doktor und einigen Freunden; – ein Gespräch, das scheinbar nicht komponiert ist, wie Sie sehen – [Hervorhebung R. H.] einige Gäste gehen dem Baron, welcher Flora führt, entgegen.«199
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