- 37 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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2.2.  Illusion vs. Demonstration, Einfühlung vs. Verfremdung

Götz Friedrich, einer der engsten Mitarbeiter Walter Felsensteins, formulierte folgende Zielsetzung für die schauspielerische Arbeit mit den Sängern der Komischen Oper:

»In der Arbeit mit den Sängern war das Hauptanliegen die Erzielung der Identität von Darsteller und Figur.«71

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In: Friedrich, Götz: Die Zauberflöte in der Inszenierung Walter Felsensteins an der Komischen Oper Berlin 1954. Henschelverlag Berlin 1958

Diese Auffassung steht im direkten Gegensatz zu der Theaterauffassung des zweiten prominenten Vertreters des damaligen Theaterlebens der DDR: Bertolt Brecht. Während Brecht sich die verfremdende Wirkung des Theatralisch-Künstlichen für sein politisches Aufklärungstheater zunutze machen wollte, indem die Darstellung ihren Kunstcharakter gerade herausstellen sollte, formuliert Felsensteins enger Mitarbeiter das entgegengesetzte Ziel, nämlich dass eine Differenz zwischen Darsteller und Rolle nicht mehr erkennbar sein solle. Diese Anforderung an die Darstellung scheint der Kunstauffassung zu folgen, Kunst müsse ihren Kunstcharakter verbergen und wie Natur erscheinen. Jene ästhetisch gegensätzlichen Auffassungen, die sich insbesondere innerhalb dem Realismus verpflichteter theoretischer Diskussionen des Theaters immer wieder an der Frage entzündet haben, ob das Theater Wirklichkeit dann erfasse, wenn es durch Einfühlung nacherlebbare Darstellungen erfindet, oder wenn es die gewohnte Wirklichkeit decouvriert, indem ihr ein verfremdender Spiegel vorgehalten wird, liegen auch dem zumindest theoretischen Verhältnis72

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Äußerungen darüber sind bei beiden nur spärlich und beinhalten weitestgehend das gegenseitige Lob der Arbeit des Anderen. So hat sich Felsenstein in die damalige Realismus-Debatte in der DDR nicht eingemischt, weswegen auf deren Darstellung hier verzichtet wird.
der beiden Exponenten des Theaters in der DDR zugrunde, Walter Felsenstein und Bertolt Brecht.

Anhand eines Vergleiches der beiden Theaterauffassungen sollen deren Positionen zu den zentralen kunsttheoretischen Kategorien der Wahrscheinlichkeit und der Glaubwürdigkeit einer Handlung im ästhetischen Feld des Theaters diskutiert und auf den Begriff der ›Einfühlung‹ bezogen werden. Gemeinhin wird das Verhältnis der beiden Kategorien zueinander so aufgefasst, dass die Glaubwürdigkeit einer Handlung durch ihre Wahrscheinlichkeit verbürgt wird. Die Wahrscheinlichkeit einer Handlung fungiert somit als Grundlage und Zweck des Prinzips der Einfühlung: Nur in wahrscheinliche (= mögliche) Handlung könne sich der Schauspieler einfühlen, um sie glaubhaft darzustellen und dies müsse ihm möglichst weitgehend gelingen, damit er als Macher verschwinde und seine Kunst wie Natur erscheine. Dann könne sich der Zuschauer wiederum in das Resultat auf der Bühne einfühlen. Das Postulat an das Theater, das die beiden Kategorien der Wahrscheinlichkeit und der Glaubwürdigkeit einer Handlung identifiziert, bedarf jedoch einer genaueren Betrachtung.


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