- 38 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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2.2.1.  Illusionstheater und Einfühlung

Vorab sei prinzipiell die banal erscheinende Tatsache festgehalten, dass die Identität des Darstellers mit der Rolle selbstverständlich nicht herzustellen ist. Die Existenz des Darstellers ist niemals getilgt. Vielmehr handelt es sich beim Begriff der Einfühlung um einen Idealtypus. Die Kompliziertheit der verlangten Identität besteht nun darin, dass sie einerseits nicht realisierbar ist, Darsteller und Rolle bleiben verschieden, andererseits existiert die Rolle als auf der Bühne verwirklichte nur in der Subjektivität ihres jeweiligen Darstellers.

Die genaue Beschaffenheit der Widersprüchlichkeit dieses Begriffes beschreibt der italienische Schauspielers Tomaso Salvini, ein Zeitgenosse Stanislavskijs folgendermaßen:

»Der Schauspieler lebt und lacht auf der Bühne, doch indem er lacht und weint, beobachtet er sein Lachen und seine Tränen. Und in diesem Doppelleben, in diesem Gleichgewicht zwischen Leben und Spiel besteht die Kunst.«73

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Zit. nach: Hoffmeier, Dieter: Stanislavskij. Auf der Suche nach dem Kreativen im Schauspieler. Neue Einblicke in sein Werk, Stuttgart, 1993, S. 87

Salvini fasst das Verhältnis von der Realität des Schauspielers zur realisierten Bühnenfigur als »Gleichgewicht zwischen Leben und Spiel«. Der Ausdruck des »Gleichgewichts« verdeutlicht die Dynamik dieses Verhältnisses: Die verwirklichte Identität von Darsteller und Bühnenfigur als zentrales Element ›einfühlenden Theaters‹ zu fordern, verfehlt den eigentlichen Kern schauspielerischer Darstellungen. Denn einerseits existiert diese Identität bereits von vornherein, eine Bühnenfigur in einer Theateraufführung gibt es nur als eine durch den Darsteller realisierte und nur so, wie sie der jeweilige Darsteller realisiert. Andererseits betrachtet man gerade nicht den jeweiligen Darsteller als ›Privatperson‹, sondern seine Tätigkeit, eine Figur darzustellen. Die dargestellte Welt unterscheidet sich also zwar grundlegend vom Darsteller, jedoch erlangt sie nur durch ihn ihre Identität. Salvini hat erkannt, dass Theater nicht mittels der Kategorie einer fiktiven Kunstwirklichkeit zu erfassen ist, die einer ›wirklichen‹ Wirklichkeit entgegenzuhalten sei,74

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Zu den problematischen Implikationen eines theatertheoretischen Denkens, das sich in der Begrifflichkeit der ›Als-ob-Theorie‹ – nicht zu verwechseln mit Stanislavskijs probenpraktischer Forderung des ›Als ob‹-Handelns oder des ›magischen wenn‹-Handelns, denn Böhnisch argumentiert auf einer analytisch-theoretischen Ebene – und der Authentizitätsforderung bewegt, schreibt S. Böhnisch: »Gäbe es eine allgemeine Darstellungstheorie für das Theater, die Darstellung auf der Bühne nicht auf den Gegensatz von Fiktion und Realität, Bedeutung und Sein, Als und Als-ob zurückführte, würde sich zeigen, daß der Versuch, die Grenze zwischen Kunst und Leben aufzuheben, nicht darum unnütz ist, weil er die Kunst zerstört, sondern weil diese Grenze eine theoretische Chimäre ist.« Böhnisch, Siemke: Was heißt wahr sein auf dem Theater? Theoretische Implikationen der theater programmatischen Authentizitätsforderung, in: Fischer-Lichte, E (Hrsg.): Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, Gunter Narr-Verlag, Tübingen 1994 S. 125–134
sondern als eine spezifische Form durch den Menschen geprägter Wirklichkeit. Um nicht sich, sondern eine Bühnenfigur darzustellen, muss sich der Darsteller verwandeln, er muss Handlungen einer ihm fremden Person ausführen, so dass der Zuschauer die dargestellte Person in ihren Absichten und Charakteristika erkennt.

Auch im eindrucksvollsten Illusionstheater beruht jedoch das illusionierte Erlebnis des Zuschauers auf der Verabredung, die dargestellte Welt zu glauben. Der


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