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1.2.  Der Hörer als Komponist

Aus der Perspektive der Kommunikationstheorie von Jean Molino9

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Molino, Jean: Fait musical et sémiologie de la musique. Musique en jeu 17, 1975.
hat Jean-Jacques Nattiez in seinem Referat10
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Nattiez, Jean-Jacques: Quelle est la pertinence de la théorie de Lerdahl-Jackendoff? In: Irène Deliège (éd.): Proceedings of the ICMPC, ESCOM, Liège 1994.
an der ICMPC’94 zunächst die Vermischung der aesthesischen mit der poietischen Ebene in der GTTM kritisiert. Es wird das Aesthesische zwar postuliert, aber so, daß es das Poietische vereinnahmt11
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GTTM’83, p. 3.
:

In dealing with especially complex artistic issues, we will sometimes elevate the experienced listener to the status of a perfect listener – that priviledged being whom the great composers and theorists presumably aspire to address.

Dieses merkwürdige Wesen des „experienced listener“ wird auch zum Mitwisser und Verbündeten der großen12

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Die kleinen und mittleren Komponisten sind gleich wegdividiert, nur das Große ist es, dem dieser Idealhörer zuhört. Und Komponisten schreiben ja auch immer nur für den Idealhörer . . .
Komponisten, und es wird behauptet, daß sie mit diesem Wesen eine Einheit der Intention bilden. Dies ist eine absurde Unterstellung. Aber es ist noch mehr: Es wird damit jede Beweispflicht der Kongruenz zwischen Komponist und Hörer aufgehoben. Es ist einfach so.

Und das ist natürlich falsch. Komponisten wie etwa Pierre Boulez, von dem ich es aus Gesprächen13

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Mazzola, Guerino: Die Lorelei in der Tonhalle (Interview mit Pierre Boulez). In: Die Wochenzeitung vom 10. 2. 1984.
persönlich weiß, machen es sich zum Vergnügen, den Hörer durch Labyrinthe zu führen, zu verwirren und zu überlisten. Das ist nichts Neues: Komponisten haben immer schon Denkebenen benutzt, die dem Hörer nie und nimmer offenbart werden. Wenn überhaupt die Rede davon sein kann, daß ein „experienced listener“ vom Komponisten angepeilt wird, dann jedenfalls nicht im Sinne einer Offenbarung der Poietik, sondern im Sinne des Einsatzes rhetorischer Ausdrucksmittel. Es ist im Gegenteil ein Kernpunkt des kommunikativen Prozesses in der Kunst überhaupt, die Spannung zwischen Poiesis und Aesthesis in der Vieldeutigkeit der semantischen Ebene aufzubauen.

Der Trick der GTTM-Autoren ist in diesem Fall, daß unbewiesene Behauptungen durch ebenso haltlose Verweise auf die Komponisten sanktioniert werden. Der idealtypische Hörer, welcher sich in Einheit mit dem großen Komponisten weiß, hat natürlich immer recht. Nur ist diese Einheit ein Phantom der psychologischen Rhetorik und nicht eine wissenschaftliche Tatsache. Diese von Nattiez beobachtete Vermischung von kommunikativen Ebenen verhindert nicht nur die Untersuchung der spezifischen Differenzen, sondern sie zerstört auch die neutrale Struktur der Werke selbst. Denn auf dieselben braucht nicht rekurriert zu werden, wenn der Idealhörer schon a priori weiß, was ihm der Komponist sagen wollte. Aber durch einen solchen Rekurs wird nicht nur Wissenschaft verunmöglicht, der Ansatz ist implizit auch normativ:

Fazit 2: Durch die Zwangs-Vermählung des perfekten Hörers mit dem großen Komponisten wird statt wissenschaftlichem Diskurs eine autoritäre Norm ausgesetzt.


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