Dabei reicht es Malle,
lediglich Melodiefragmente zu zitieren, um die wesentlichen Entwicklungsstufen der
Beziehung Juliens zu Jean zu kennzeichnen (Klavierunterricht, Französischunterricht,
Herumschnüffeln Juliens in Jeans Sachen), wobei die Musik hier als Signal
fungiert und den Zuschauer wiederholt auf diesen zentralen Aspekt des Films
führt.
Es soll an dieser Stelle noch auf zwei weitere Musikbeispiele eingegangen werden,
dem Rondo Capriccioso von Camille Saint-Saëns und dem Boogie-Woogie in
Segment 45.
Die Komposition für Klavier und Violine von Saint-Saëns, ein Virtuosenstück,
das der Komponist für den befreundeten Pablo de Sarasate geschrieben hatte,
hebt sich durch seine Virtuosität und seinen Gestus deutlich vom Moment
musical ab. Diese Sonderstellung innerhalb der Musikdramaturgie des Films
korrespondiert mit der Stellung von Segment 11 in Bezug auf den Rest des
Films: während der Vorführung des Stummfilms sitzen Schüler, Lehrer und
sogar Joseph einträchtig nebeneinander und erfreuen sich gleichermaßen an The
Immigrant von Charlie Chaplin. Die Kinder ärgern und hänseln sich nicht
untereinander, und auch Julien und Jean tauschen erste kameradschaftliche Blicke aus.
Diese Szene hat den Charakter einer Insel der Harmonie inmitten eines Films,
der schon von Beginn an durch Atmosphäre und Farbgebung ein tragisches
Ende vermuten lässt. Dennoch ist auch in diesem »moment de détente et de
convivialité«271
»Moment der Entspannung und Gemeinschaft«, zit. n. Prédal (1989), S. 157
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tiefere Bedeutung enthalten, die sich im Hinblick auf das Ende des Films als tragisch
erweisen wird. Die Musik wird von der Klavierlehrerin Mlle Davenne und dem
Griechischlehrer M. Florent an der Violine gespielt, laut Schmidt ein »klassisches
Stummfilm-Szenario«.272
Schmidt hebt die »Koinzidenz des späteren Habanera-Themas
mit der Bemerkung eines Schülers ›Guck mal, jetzt hat er sich
verliebt‹«273
heraus. Die Ausdrucksqualität jenes Themas gewinnt jedoch eine weitere Dimension,
zieht man die sehnsüchtig-traurigen Blicke von Négus (Nahaufnahme) und
Bonnet hinzu: Diese sehen zu den sehnsuchtsvoll-leidenschaftlich klingenden
Doppelgriffen im spanischen Kolorit der Violine die Freiheitsstatue auf der
Leinwand vorbeiziehen. Der Film wird hier zu einer Wunschprojektion ihrer
Lebenssituation, zu einem nicht zu erfüllenden Traum. Somit gewinnt diese Szene den
Charakter einer mehrschichtigen Utopie: gemeinsamer Moment der Freude im
Mikrokosmos Internat zu Zeiten des Kriegs und der Bedrohung und die Vision von
Freiheit für die jüdischen Schüler. Die Musik bestimmt diese Wirkung auf subtile
Art und Weise: im On erklingend, somit legitimer Bestandteil der Bildebene,
vermag sie dramaturgisch und atmosphärisch die kurze Szene aus dem Rest des
Films herauszuheben, um aber gleichzeitig an das Schicksal der Verfolgten zu
erinnern.
Der Boogie-Woogie, den Julien und Jean in Segment 13 spielen, kennzeichnet den
endgültigen Umschlag ihrer Rivalität in Freundschaft. Während eines Luftalarms verstecken
sich die Jungen im Klavierzimmer und spielen vierhändig einen Boogie, nachdem Julien
von Jean in der Bass-Technik instruiert wurde. Bezeichnend ist, dass diese Entwicklung
der Beziehung genau am Ort der ersten Konkurrenzsituation, im Klavierzimmer, ihren
vorläufigen Schlusspunkt erreicht. Der Boogie
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