- 112 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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Dabei reicht es Malle, lediglich Melodiefragmente zu zitieren, um die wesentlichen Entwicklungsstufen der Beziehung Juliens zu Jean zu kennzeichnen (Klavierunterricht, Französischunterricht, Herumschnüffeln Juliens in Jeans Sachen), wobei die Musik hier als Signal fungiert und den Zuschauer wiederholt auf diesen zentralen Aspekt des Films führt.

Es soll an dieser Stelle noch auf zwei weitere Musikbeispiele eingegangen werden, dem Rondo Capriccioso von Camille Saint-Saëns und dem Boogie-Woogie in Segment 45.

Die Komposition für Klavier und Violine von Saint-Saëns, ein Virtuosenstück, das der Komponist für den befreundeten Pablo de Sarasate geschrieben hatte, hebt sich durch seine Virtuosität und seinen Gestus deutlich vom Moment musical ab. Diese Sonderstellung innerhalb der Musikdramaturgie des Films korrespondiert mit der Stellung von Segment 11 in Bezug auf den Rest des Films: während der Vorführung des Stummfilms sitzen Schüler, Lehrer und sogar Joseph einträchtig nebeneinander und erfreuen sich gleichermaßen an The Immigrant von Charlie Chaplin. Die Kinder ärgern und hänseln sich nicht untereinander, und auch Julien und Jean tauschen erste kameradschaftliche Blicke aus. Diese Szene hat den Charakter einer Insel der Harmonie inmitten eines Films, der schon von Beginn an durch Atmosphäre und Farbgebung ein tragisches Ende vermuten lässt. Dennoch ist auch in diesem »moment de détente et de convivialité«271

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»Moment der Entspannung und Gemeinschaft«, zit. n. Prédal (1989), S. 157
tiefere Bedeutung enthalten, die sich im Hinblick auf das Ende des Films als tragisch erweisen wird. Die Musik wird von der Klavierlehrerin Mlle Davenne und dem Griechischlehrer M. Florent an der Violine gespielt, laut Schmidt ein »klassisches Stummfilm-Szenario«.272
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Schmidt (1992), S. 242
Schmidt hebt die »Koinzidenz des späteren Habanera-Themas mit der Bemerkung eines Schülers ›Guck mal, jetzt hat er sich verliebt‹«273
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Ebda.
heraus. Die Ausdrucksqualität jenes Themas gewinnt jedoch eine weitere Dimension, zieht man die sehnsüchtig-traurigen Blicke von Négus (Nahaufnahme) und Bonnet hinzu: Diese sehen zu den sehnsuchtsvoll-leidenschaftlich klingenden Doppelgriffen im spanischen Kolorit der Violine die Freiheitsstatue auf der Leinwand vorbeiziehen. Der Film wird hier zu einer Wunschprojektion ihrer Lebenssituation, zu einem nicht zu erfüllenden Traum. Somit gewinnt diese Szene den Charakter einer mehrschichtigen Utopie: gemeinsamer Moment der Freude im Mikrokosmos Internat zu Zeiten des Kriegs und der Bedrohung und die Vision von Freiheit für die jüdischen Schüler. Die Musik bestimmt diese Wirkung auf subtile Art und Weise: im On erklingend, somit legitimer Bestandteil der Bildebene, vermag sie dramaturgisch und atmosphärisch die kurze Szene aus dem Rest des Films herauszuheben, um aber gleichzeitig an das Schicksal der Verfolgten zu erinnern.

Der Boogie-Woogie, den Julien und Jean in Segment 13 spielen, kennzeichnet den endgültigen Umschlag ihrer Rivalität in Freundschaft. Während eines Luftalarms verstecken sich die Jungen im Klavierzimmer und spielen vierhändig einen Boogie, nachdem Julien von Jean in der Bass-Technik instruiert wurde. Bezeichnend ist, dass diese Entwicklung der Beziehung genau am Ort der ersten Konkurrenzsituation, im Klavierzimmer, ihren vorläufigen Schlusspunkt erreicht. Der Boogie


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