des Tages mehrere Paarkonstellationen gebildet haben (Claire/Grimaldi,
Camille/ Daniel, Milou/Lily, Pierre-Alain/Marie-Laure). Zudem tarnt Camille das
Stück – wie Cherubino in der Oper – als Vortrag, um sich Daniel gegenüber zu
äußern.298
Dieser Aspekt wird dadurch deutlich, dass sie sich ihm mehrmals direkt zuwendet, zumal der
Text in der französischen Übersetzung lautet: ›Quand je m’avance pour lui parler, mon coeur
commence à se troubler‹ (›Wenn ich mich nähere, um mit ihm zu sprechen, beginnen sich
meine Gefühle zu verwirren‹). Camille überträgt hier den Textinhalt auf die reale Situation.
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Hier wird deutlich, dass Camille in die Rolle des Cherubino schlüpft. Sie
sehnt sich nach der pubertären Unschuld und der erotischen Ausstrahlung des
Knaben,299
Vgl. Höllerer, Elisabeth: Die Hochzeit der Susanna. Die Frauenfiguren in Mozarts Le nozze
di Figaro. Hamburg: von Bockel 1995, S. 44 f.
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vor allem jedoch möchte sie ebenso begehrt sein wie er, was sie in der Realität keineswegs
ist.300
Der offene Streit zwischen Claire und Camille in Segment 63 belegt dieses. Vor allem wird an
jener Stelle jedoch deutlich, wie sehr Camille unter ihrem Ruf leidet: »Elle me déteste! . . .
Tout le monde me déteste . . . Je m’occupe de tout, je fais la cuisine, je travaille du matin au
soir, et tout le monde se sert de moi!« (Sie hasst mich! . . . Alle hassen mich . . . Ich kümmere
mich um alles, ich koche, ich arbeite von morgens früh bis abends spät und alle nutzen mich
aus!«), zit. n. Malle, Louis/Carrière, Jean-Claude: Milou en mai. Scénario. Paris: Gallimard
1990, S. 141
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Sie ist weder beliebt noch unschuldig, da sie beispielsweise den Ring ihrer Großmutter
stiehlt, um sich an der Erbschaft zu bereichern. Zudem tritt sie an mehreren
Stellen mit ihrem falsch frömmelnden Katholizismus auf, durch den sie versucht,
wie eine unbescholtene, glaubenstreue Bürgerin zu wirken. Somit wirkt der
Vortrag gerade dieser Arie wie eine Persiflage auf ihre Person. Sie ist nicht der
umschwärmte Page, sondern eine frustrierte, spießige Arztgattin, die nicht eine edle
Gräfin umschwärmt, sondern mit dem nicht besonders attraktiv wirkenden,
trotteligen Notar Daniel anbändelt. Hinzu kommt, dass Camille das Stück nicht im
Belcanto, sondern mit ihrer eigenen, etwas brüchigen Stimme vorträgt, was die
Ironie noch verstärkt. Dieser Aspekt ist von großer Wichtigkeit, da die intime
Atmosphäre des Hausmusizierens nicht durch eine extern montierte Stimme
zerstört wird, eine ästhetische Entscheidung, die auf die Initiative von Miou-Miou
zurückging:
»Ce n’était pas prévu comme ça. Louis pensait la faire jouer en play-back
et c’est elle [Miou-Miou] qui a insisté pour chanter elle-même. Et elle a eu
extrêmement raison parce que je trouve que toute la magie de la scène tient
sur le fait que c’est cette petite voix qui n’a rien à voir avec le belcanto«.301
Jean-Claude Laureux im Interview mit dem Verfasser, 4. 4. 2001 (»Diese Szene
war nicht so geplant. Louis wollte sie mit Playback spielen lassen, und sie
[Miou-Miou] war es, die darauf bestanden hat, selbst zu singen. Und sie hat
absolut recht gehabt, denn ich finde, dass die ganze Magie der Szene darin
besteht, dass man diese kleine Stimme hört, die überhaupt nichts mit belcanto
zu tun hat.«)
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Die von Camille vorgetragenen Wunschvorstellungen lassen sich auch in Ansätzen
auf die anderen Paare übertragen: Man träumt gemeinsam mit Camille vom
pubertären Ausleben der Gefühle, wobei man am Ende jedoch wieder in die alten
Rollen zurückschlüpft (Ausnahme: Marie-Laure, die gemeinsam mit Pierre-Alain
wegfährt).
Ähnlich wie im Film Atlantic City, U.S.A. beweist Malle Gespür für das Einflechten
präexistenter Opernmusik, wobei es jeweils Entsprechungen der Opern-
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