- 125 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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des Tages mehrere Paarkonstellationen gebildet haben (Claire/Grimaldi, Camille/ Daniel, Milou/Lily, Pierre-Alain/Marie-Laure). Zudem tarnt Camille das Stück – wie Cherubino in der Oper – als Vortrag, um sich Daniel gegenüber zu äußern.298
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Dieser Aspekt wird dadurch deutlich, dass sie sich ihm mehrmals direkt zuwendet, zumal der Text in der französischen Übersetzung lautet: ›Quand je m’avance pour lui parler, mon coeur commence à se troubler‹ (›Wenn ich mich nähere, um mit ihm zu sprechen, beginnen sich meine Gefühle zu verwirren‹). Camille überträgt hier den Textinhalt auf die reale Situation.

Hier wird deutlich, dass Camille in die Rolle des Cherubino schlüpft. Sie sehnt sich nach der pubertären Unschuld und der erotischen Ausstrahlung des Knaben,299

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Vgl. Höllerer, Elisabeth: Die Hochzeit der Susanna. Die Frauenfiguren in Mozarts Le nozze di Figaro. Hamburg: von Bockel 1995, S. 44 f.
vor allem jedoch möchte sie ebenso begehrt sein wie er, was sie in der Realität keineswegs ist.300
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Der offene Streit zwischen Claire und Camille in Segment 63 belegt dieses. Vor allem wird an jener Stelle jedoch deutlich, wie sehr Camille unter ihrem Ruf leidet: »Elle me déteste! . . . Tout le monde me déteste . . . Je m’occupe de tout, je fais la cuisine, je travaille du matin au soir, et tout le monde se sert de moi!« (Sie hasst mich! . . . Alle hassen mich . . . Ich kümmere mich um alles, ich koche, ich arbeite von morgens früh bis abends spät und alle nutzen mich aus!«), zit. n. Malle, Louis/Carrière, Jean-Claude: Milou en mai. Scénario. Paris: Gallimard 1990, S. 141
Sie ist weder beliebt noch unschuldig, da sie beispielsweise den Ring ihrer Großmutter stiehlt, um sich an der Erbschaft zu bereichern. Zudem tritt sie an mehreren Stellen mit ihrem falsch frömmelnden Katholizismus auf, durch den sie versucht, wie eine unbescholtene, glaubenstreue Bürgerin zu wirken. Somit wirkt der Vortrag gerade dieser Arie wie eine Persiflage auf ihre Person. Sie ist nicht der umschwärmte Page, sondern eine frustrierte, spießige Arztgattin, die nicht eine edle Gräfin umschwärmt, sondern mit dem nicht besonders attraktiv wirkenden, trotteligen Notar Daniel anbändelt. Hinzu kommt, dass Camille das Stück nicht im Belcanto, sondern mit ihrer eigenen, etwas brüchigen Stimme vorträgt, was die Ironie noch verstärkt. Dieser Aspekt ist von großer Wichtigkeit, da die intime Atmosphäre des Hausmusizierens nicht durch eine extern montierte Stimme zerstört wird, eine ästhetische Entscheidung, die auf die Initiative von Miou-Miou zurückging:

»Ce n’était pas prévu comme ça. Louis pensait la faire jouer en play-back et c’est elle [Miou-Miou] qui a insisté pour chanter elle-même. Et elle a eu extrêmement raison parce que je trouve que toute la magie de la scène tient sur le fait que c’est cette petite voix qui n’a rien à voir avec le belcanto«.301

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Jean-Claude Laureux im Interview mit dem Verfasser, 4. 4. 2001 (»Diese Szene war nicht so geplant. Louis wollte sie mit Playback spielen lassen, und sie [Miou-Miou] war es, die darauf bestanden hat, selbst zu singen. Und sie hat absolut recht gehabt, denn ich finde, dass die ganze Magie der Szene darin besteht, dass man diese kleine Stimme hört, die überhaupt nichts mit belcanto zu tun hat.«)

Die von Camille vorgetragenen Wunschvorstellungen lassen sich auch in Ansätzen auf die anderen Paare übertragen: Man träumt gemeinsam mit Camille vom pubertären Ausleben der Gefühle, wobei man am Ende jedoch wieder in die alten Rollen zurückschlüpft (Ausnahme: Marie-Laure, die gemeinsam mit Pierre-Alain wegfährt).

Ähnlich wie im Film Atlantic City, U.S.A. beweist Malle Gespür für das Einflechten präexistenter Opernmusik, wobei es jeweils Entsprechungen der Opern-


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