- 168 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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Arbeitsvorgänge bemerkbar, der konstante Lärmpegel löst ein Gefühl der Übermüdung, des Stresses und eventuell sogar der Einsamkeit aus, einer Einsamkeit, die auch im Bild handgreiflich ist. Denn eine verbale Kommunikation ist auch zwischen den Arbeitern aufgrund der unterschiedlichen Arbeitsprozesse und der Geräuschkulisse fast unmöglich: »The intentness and silence of the workers is an enforced response to the demands of repetition and the moving assembly line.«422
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Rollet (1977b), S. 58

Somit ist Humain, trop humain ein Film, der versucht, lediglich durch seine Bilder und Töne zu sprechen, dem Filmbetrachter jedoch keinerlei didaktische Hilfestellung beim Verstehen gibt. Der Zuschauer muss demnach selbst einen Teil der Verständnisarbeit leisten und am Reflexionsprozess teilnehmen: »après la sensation, la réflexion«.423

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Malle in: Braucourt (1974), S. 27 (»nach der Wahrnehmung die Reflexion«)

Dieser Aspekt ist einer der Hauptkritikpunkte am Film. Wilhelm Roth424

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Vgl. Roth (1985), S. 23–28
und Guy Gauthier werfen ihm in ihren Artikeln eine gewisse Oberflächlichkeit vor. Gauthier spielt auf den Titel (dem Nietzsche-Werk Menschlich, allzu menschlich entnommen) an und schreibt, dass der Film (in Ironie zum Titel) zwar Inhumanes zeige, jedoch indifferent in Bezug auf Humanität sei:

»J’entends bien qu’on a voulu jouer sur une subtile antithèse, mais pour être convaincant, il aurait fallu ne pas être superficiel. Que manque-t-il à ce film? La parole. Il ne lui manque que la parole pour aller au-delà des gestes machinaux et des visages fermés. Car les choses, contrairement à une légende tenace, ne parlent pas d’elles-mêmes.«425

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Gauthier (1974), S. 98: »Ich verstehe wohl, dass man eine subtile Antithese zum Titel kreieren wollte, aber um zu überzeugen, hätte man nicht oberflächlich sein dürfen. Was fehlt dem Film? Die Sprache, nichts als die Sprache, um über die maschinellen Gesten und verschlossenen Gesichter hinauszugehen. Denn, entgegen einer hartnäckigen Legende, erzählen die Dinge nicht von sich selbst.«)

Somit bleibt Filmklang mit seinen Geräuschen neben den Bildern die einzige Kommunikationsmöglichkeit zwischen Regisseur und Zuschauer (Sprache und Musik fallen fast vollständig weg). Ästhetisch ist der Film dem cinéma direct verbunden. Es wird fast durchgehend Synchronton verwendet; Ausnahmen finden nur an wenigen Stellen statt; so in der bereits erwähnten (durch den Einsatz von Musik ästhetisch fragwürdigen) Eingangssequenz oder beim Übergang vom zweiten in den dritten Teil (s. o.). In dieser radikalen Form des cinéma direct 426

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Vgl. die Definition, die Christoph Decker formuliert: »[. . . ] das Aufnahmeteam wurde verkleinert, Vorgaben eines Drehbuchs, Interviews oder Anweisungen eines Regisseurs waren verpönt, empfindlicheres Filmmaterial erlaubte den Verzicht auf künstliches Licht, und die geschulterte Kamera bzw. die Verwendung von Zoom-Objektiven ermöglichten einer größere Mobilität. Die Aufnahmen wurden zumeist chronologisch montiert, und es bestand der Anspruch, sie weder musikalisch noch durch einen ergänzenden Kommentar zu begleiten, was jedoch nur selten in Reinform geschah.«, zit. n. Decker, Christoph: »Direct cinema«. In: Rother (1997), S. 59–61, hier S. 59. Diese Definition trifft auf Humain, trop humain fast vollständig zu. Gerade der Verzicht auf Off-Kommentar ist an dieser Stelle erneut hervorzuheben.
werden die Grenzen des Genres sichtbar. In seiner Intention ist der Film Humain, trop humain sicherlich verständlich, die konkrete Rezeption gestaltet sich jedoch aus oben genannten Gründen problematisch.


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