Arbeitsvorgänge bemerkbar, der konstante Lärmpegel löst ein Gefühl der
Übermüdung, des Stresses und eventuell sogar der Einsamkeit aus, einer Einsamkeit,
die auch im Bild handgreiflich ist. Denn eine verbale Kommunikation ist auch
zwischen den Arbeitern aufgrund der unterschiedlichen Arbeitsprozesse und der
Geräuschkulisse fast unmöglich: »The intentness and silence of the workers is
an enforced response to the demands of repetition and the moving assembly
line.«422
Somit ist Humain, trop humain ein Film, der versucht, lediglich durch seine
Bilder und Töne zu sprechen, dem Filmbetrachter jedoch keinerlei didaktische
Hilfestellung beim Verstehen gibt. Der Zuschauer muss demnach selbst einen Teil der
Verständnisarbeit leisten und am Reflexionsprozess teilnehmen: »après la sensation, la
réflexion«.423
Malle in: Braucourt (1974), S. 27 (»nach der Wahrnehmung die Reflexion«)
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Dieser Aspekt ist einer der Hauptkritikpunkte am Film. Wilhelm
Roth424
Vgl. Roth (1985), S. 23–28
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und Guy Gauthier werfen ihm in ihren Artikeln eine gewisse Oberflächlichkeit vor.
Gauthier spielt auf den Titel (dem Nietzsche-Werk Menschlich, allzu menschlich
entnommen) an und schreibt, dass der Film (in Ironie zum Titel) zwar Inhumanes zeige,
jedoch indifferent in Bezug auf Humanität sei:
»J’entends bien qu’on a voulu jouer sur une subtile antithèse, mais pour
être convaincant, il aurait fallu ne pas être superficiel. Que manque-t-il à ce
film? La parole. Il ne lui manque que la parole pour aller au-delà des gestes
machinaux et des visages fermés. Car les choses, contrairement à une légende
tenace, ne parlent pas d’elles-mêmes.«425
Gauthier (1974), S. 98: »Ich verstehe wohl, dass man eine subtile Antithese
zum Titel kreieren wollte, aber um zu überzeugen, hätte man nicht oberflächlich
sein dürfen. Was fehlt dem Film? Die Sprache, nichts als die Sprache, um über
die maschinellen Gesten und verschlossenen Gesichter hinauszugehen. Denn,
entgegen einer hartnäckigen Legende, erzählen die Dinge nicht von sich selbst.«)
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Somit bleibt Filmklang mit seinen Geräuschen neben den Bildern die einzige
Kommunikationsmöglichkeit zwischen Regisseur und Zuschauer (Sprache und
Musik fallen fast vollständig weg). Ästhetisch ist der Film dem cinéma direct
verbunden. Es wird fast durchgehend Synchronton verwendet; Ausnahmen finden
nur an wenigen Stellen statt; so in der bereits erwähnten (durch den Einsatz
von Musik ästhetisch fragwürdigen) Eingangssequenz oder beim Übergang
vom zweiten in den dritten Teil (s. o.). In dieser radikalen Form des cinéma
direct 426
Vgl. die Definition, die Christoph Decker formuliert: »[. . . ] das Aufnahmeteam wurde
verkleinert, Vorgaben eines Drehbuchs, Interviews oder Anweisungen eines Regisseurs waren
verpönt, empfindlicheres Filmmaterial erlaubte den Verzicht auf künstliches Licht, und die
geschulterte Kamera bzw. die Verwendung von Zoom-Objektiven ermöglichten einer größere
Mobilität. Die Aufnahmen wurden zumeist chronologisch montiert, und es bestand der
Anspruch, sie weder musikalisch noch durch einen ergänzenden Kommentar zu begleiten,
was jedoch nur selten in Reinform geschah.«, zit. n. Decker, Christoph: »Direct cinema«.
In: Rother (1997), S. 59–61, hier S. 59. Diese Definition trifft auf Humain, trop humain
fast vollständig zu. Gerade der Verzicht auf Off-Kommentar ist an dieser Stelle erneut
hervorzuheben.
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werden die Grenzen des Genres sichtbar. In seiner Intention ist der Film Humain, trop
humain sicherlich verständlich, die konkrete Rezeption gestaltet sich jedoch aus oben
genannten Gründen problematisch.
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