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  Place de la République

Im gleichen Jahr wie Humain, trop humain und mit der gleichen Crew gedreht, stellt sich Place de la République wie sein komplementäres Pendant dar.427

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Der Film Place de la République wurde nur in Frankreich verliehen, da er wie kein anderer von Malles Filmen an die französische Sprache gebunden ist. Einige Ausdrücke und Redewendungen sind nur schwer in andere Sprachen zu übersetzen, weswegen Malle von Untertiteln absah: »This film is absolutely untransportable outside France. With subtitles, it would lose everything, all the flavor.« (In: Rollet, Ronald T. (1977c): »An Interview with Louis Malle«. In: Film Library Quaterly 4/77, S. 45–47; 61–64, hier S. 61)
Während in ersterem Film die Sprache schwieg und der Akzent auf dem Lärm lag, besteht dieser Film vollständig aus Sprache: Binnen zehn Tagen hielten sich Malle und sein Team auf einem kurzen Abschnitt auf der Place de la Republique zwischen der Rue du Temple und dem Boulevard Beaumarchais auf und versuchten, mit den vorbeieilenden Passanten (zumeist Anwohner) ins Gespräch zu kommen. Malles anfängliche Befürchtung, die Leute seien zu scheu vor der Kamera, bestätigte sich nicht – im Gegenteil: Manchen merkt man es regelrecht an, dass sie es genossen und das Bedürfnis hatten zu reden. Malle stellt seinen Gegenübern unverbindliche Fragen über ihre Gesundheit, das Wetter, ihre Erinnerungen und Hoffnungen etc. Diese antworten mit teilweise sehr persönlichen Geschichten. Im Laufe des Films merkt man, wie sich der Regisseur und sein Team nach einigen Tagen in zunehmenden Maße in den Anwohnerstrom integrieren, sie werden wiedererkannt, Leute kommen ihrerseits auf sie zu – eine Entwicklung, die schließlich dazu führt, dass eine junge Frau das Mikrofon in ihrer Handtasche versteckt und selber Leute interviewt, während sie vom Team gefilmt wird. Manche Personen treten mehrmals auf, so die eben erwähnte Frau oder eine Lottoverkäuferin. Bemerkenswert ist die Fähigkeit des Regisseurs, auch solche Leute zum sprechen zu bewegen, die normalerweise Kamerateams meiden, so eine Witwe, die sich prostituiert, oder ein Gastarbeiter. Auf diese Weise gelingt Malle ein Panorama unterschiedlichster Personen von unterschiedlichster Bildung und Herkunft: »Sur la Place de la République, c’était vraiment la commedia dell’arte. Je retrouvais le Paris des romans de Queneau, une nomenclature étonnante du français parlé.«428
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Louis Malle im Gespräch mit Cl. Devarrieux und M. Ch. de Navacelle, zit nach Prédal (1989), S. 90 (»Auf der Place de la République war es wie bei der Commedia dell’arte. Ich fand das Paris aus Queneaus Romanen, eine erstaunliche Nomenklatur des gesprochenen Französisch.«)
Dabei bleibt Malle jedoch an der Oberfläche; er vertieft die einzelnen Beiträge der Menschen nicht, er verzichtet auf einen Kommentar; in den seltensten Fällen beschäftigt er sich länger mit einer Person, Aspekte, die ihm Guy Gauthier vorwirft:

»[...] les cinéastes, quand ils ont commencé à s’intégrer à la vie du lieu, cessent d’être des étrangers. On les reconnaît, on les retrouve, on les adopte. Désormais ils font partie de cette fragile réalité sociologique qu’est une place où tout le monde passe. Alors ils pourraient commencer à tourner vraiment, à profiter de leur participation éphémère. Au lieu de cela, ils s’en vont ailleurs, et de leurs trop brèves rencontres, il ne reste que cette beauté fugitive des visages filmés. Les deux films ont donc en commun une désagréable impression de superficiel. Ce n’est pas l’impuissance de l’auteur, mais son refus d’aller plus profond, ou bien sa conviction que la surface révèle des profondeurs.«429

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Gauthier (1974), S. 99 (»Die Filmemacher hören auf, Fremde zu sein, wenn sie sich zu integrieren beginnen. Man erkennt sie, man findet sie, man nimmt sie auf. Von hier an sind sie ein Teil dieser fragilen soziologischen Wirklichkeit, die ein Platz darstellt, auf dem alle Welt vorüberzieht. Nun könnten sie wirklich filmen und von ihrer vergänglichen Beteiligung profitieren. Stattdessen gehen sie woanders hin, und von ihren zu kurzen Bekanntschaften bleibt nur die flüchtige Schönheit der gefilmten Gesichter. Die beiden Filme [Humain, trop humain, Place de la République] haben eines gemeinsam: den unangenehmen Eindruck von Oberflächlichkeit. Dieses liegt nicht an der Unfähigkeit des Regisseurs, sondern an seiner Weigerung, tiefer in ein Sujet einzudringen, oder an seiner Überzeugung, dass die Oberfläche Tieferes offenbart.«)


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