Die Bedeutung des Jazz in Le Souffle au coeur
Der Stellenwert des Jazz wird in Verbindung mit dem Protagonisten Laurent Chevalier
deutlich. Er hat einen sehr exklusiven musikalischen Geschmack, den er gerne zur Schau
trägt. Schon bei seinem ersten Auftreten wird dieser Aspekt deutlich, wenn er vor
seinem Freund Gérard von der neuen Charlie Parker-Schallplatte schwärmt und dessen
Begeisterung für Jelly Roll Morton verächtlich mit der arroganten Bemerkung
abtut: »Moi, le vieux jazz, simplement ça me fatigue! C’est toujours la même
chose!«.461
»Der alte Jazz nervt mich einfach. Es ist immer das Gleiche!«
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Ironischerweise beginnt gerade in dem Moment, in dem Gérard vom »solo de piano
fantastique« des New Orleans-Pianisten spricht, ein Bebop-Klaviersolo, welches im
Kontrast zum von Gérard präferierten frühen Jazz steht (S 1).
Es stellt sich folglich die Frage, inwieweit dieser Musikstil zur Charakterisierung der
Person Laurent dient und welche Beschriftung er zum Zeitpunkt des Filmes (1954) hatte.
Aus diesem Grunde sei an dieser Stelle ein kurzer Exkurs über die Entstehung und
Sozialgeschichte des Bebop sowie seiner Rezeption eingeschoben.
Um die Bedeutung des Bebop zu verdeutlichen, ist es unerlässlich, die Situation des
Jazz in den späten 30er- und frühen 40er-Jahren zu skizzieren. In den 30er-Jahren
dominierte stilistisch der Swing. Zahlreiche Big Bands, wie die Benny Goodman Big
Band oder das große Orchester Luis Russells, welches Louis Armstrong begleitete,
verhalfen dem Swing zu ungeahnten kommerziellen Erfolgen, wobei das Wort
›Swing‹ zum »Erfolgsetikett für Waren jeglicher Art, die gut verkauft werden sollten
[wurde]«.462
Berendt, Joachim E.: Das große Jazzbuch. Von New Orleans bis Jazz Rock. 5. Auflage.
Frankfurt am Main: Krüger 1981, S. 31
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Dennoch boten die Stücke für einige Musiker nicht genügend Freiraum, um ihrer Kreativität
und ihrem innovativen Drang nach neuen musikalischen Ausdrucksformen gerecht zu
werden: »Das Orchester ist ein Gefängnis, dessen Vorschriften schwer auf dem Erneuerer
lasten.«463
Charlie Parker zit. n. Hodeir, André: »Bebop – ein Kind der Nacht«. In: Wolbert, Klaus
(Hrsg.): That’s Jazz. Der Sound des 20. Jahrhunderts. Sonderausgabe. Frankfurt am Main:
Zweitausendeins 1997, S. 167–186, hier S. 168
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So traf man sich nach Ende des offiziellen Programms eines Auftritts in kleinen Clubs zu
Jamsessions, bei denen in kleinen Ensembles in ausgedehnten Improvisationen neue Ideen
durchgespielt werden konnten. Der berühmteste Club dieser Zeit war das Minton’s Playhouse, in
dem sich regelmäßig Kenny Clarke, Thelonius Monk und Nick Fenton als Rhythmusgruppe und
Dizzy Gillespie und später auch Charlie Parker als Solisten einfanden. Der neue Stil, der sich
allmählich entwickelte und erst später den Namen Bebop erhielt, fiel durch häufig
extrem schnelles Tempo, nervöse Melodiephrasen und zeitweise Polyrhythmik auf und
provozierte und schockierte traditionelle Musiker und Fachpresse. Diese Musik hob sich
vom Swing in einem wesentlichen Punkt ab: Es war keine herkömmliche Tanzmusik
mehr und erforderte daher auch veränderte Rezeptionsgewohnheiten, nämlich ein
aufmerksames Zuhören. Damit hatte sich der Jazz zum ersten Mal von der traditionellen
Unterhaltungsmusik abgewandt und war im Prinzip zu einer Konzertmusik geworden.
Es erfolgte die Abkehr vom Bild des Jazz als einer für die Massen verständlichen
Popularkunst.
Einige traditionelle Musiker wie z. B. Louis Armstrong polemisierten gegen
den neuen Stil. Tommy Dorsey nannte die Bebopper die »Kommunisten der
Musik«.464
Tommy Dorsey zit. n. Hodeir (1997), S. 177
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Und das
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